28.07.2015

Auch Geschäftsführer und Praktikanten können Arbeitnehmer i.S.d. Massenentlassungsrichtlinie sein

Für die Frage, ob in einem Betrieb bei Kündigungen der Schwellenwert für eine anzeigepflichtige Massenentlassung überschritten wird, können auch Geschäftsführer und Praktikanten zu berücksichtigen sein. Dabei ist es unerheblich, ob diese nach nationalem Recht als Arbeitnehmer gelten, da der Arbeitnehmerbegriff innerhalb der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich ausgelegt werden muss.

EuGH 9.7.2015, C‑229/14
Der Sachverhalt:
Der Kläger des Ausgangsverfahrens war seit April 2011 als Techniker für die beklagte GmbH tätig, die unstreitig zusammen mit ihm mindestens 19 Arbeitnehmer beschäftigte. Zum 15.2.2013 kündigte die Beklagte sämtliche Arbeitsverhältnisse aus dringenden betrieblichen Gründen und stellte ihren in Verlust geratenen Geschäftsbetrieb ein.

Mit seiner gegen die Kündigung gerichteten Klage machte der Kläger geltend, dass die Kündigung wegen unterbliebener Massenentlassungsanzeige unwirksam sei. Der Schwellenwert des § 17 Abs. 1 Nr. 1 KSchG von 20 Arbeitnehmern würde überschritten, weil insoweit auch der Geschäftsführer L. der Beklagten und die Praktikantin S. zu berücksichtigen seien.

L. hielt keine Geschäftsanteile an der Gesellschaft und war zu deren Vertretung nur gemeinschaftlich mit einem anderen Geschäftsführer berechtigt. S. durchlief bei der Beklagten eine Umschulungsmaßnahme zur Bürokauffrau, die vom Jobcenter gefördert wurde. Die Förderung, deren Höhe sich auf die gesamte an S. zu leistende Ausbildungsvergütung belief, wurde dieser unmittelbar von der Bundesagentur für Arbeit gezahlt.

Das mit der Klage befasste Arbeitsgericht Verden setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Fragen zur Vorabentscheidung vor, ob Geschäftsführer wie L. und Praktikanten wie S. Arbeitnehmer im Sinn der Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie) sind. Der EuGH bejahte dies.

Die Gründe:
Geschäftsführer wie L. und Praktikanten wie S. sind Arbeitnehmer i.S.v. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59/EG. Das gilt unabhängig davon, ob sie nach nationalem - hier deutschem - Recht als Arbeitnehmer einzuordnen sind. Denn der Arbeitnehmer-Begriff in der Massenentlassungsrichtlinie muss innerhalb der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich ausgelegt werden. Anderenfalls stünden die Berechnungsmodalitäten für diese Schwellenwerte und damit diese Schwellenwerte selbst zur Disposition der Mitgliedstaaten.

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist der Begriff des "Arbeitnehmers" anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der Betroffenen kennzeichnen. Maßgeblich ist insoweit, ob eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält.

Nach dieser Definition sind Geschäftsführer wie L. Arbeitnehmer. Allein der Umstand, dass er Mitglied des Leitungsorgans einer Kapitalgesellschaft war, schließt ein Unterordnungsverhältnis gegenüber der Gesellschaft nicht aus. Zu berücksichtigen ist auch, dass L. jederzeit gegen seinen Willen abberufen werden konnte, er bei Ausübung seiner Tätigkeit der Weisung und Aufsicht des Organs und weiteren Vorgaben und Beschränkungen unterlag. Seine Stellung wurde zudem dadurch geschwächt, dass er keine Anteile an der Gesellschaft besaß.

Im Übrigen ist der Arbeitnehmer-Begriff in der Massenentlassungsrichtlinie nach ihrem Ziel, den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu verstärken, nicht eng auszulegen. Diese Erwägung führt auch bei Praktikanten wie S. dazu, diese als Arbeitnehmer i.S.d. Richtlinie anzusehen.

Linkhinweis:
Der Volltext der Entscheidung ist auf der Homepage des EuGH veröffentlicht. Um direkt zu dem Volltext zu kommen, klicken Sie bitte hier.

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