29.07.2016

KSchG: Auch Personen in Elternzeit muss der Schutz der Regeln zur Massenentlassung gewährt werden

Wird einer Person in Elternzeit wegen der Durchführung eines vorrangigen behördlichen Verfahrens nicht im 30-Tages-Zeitraum nach § 17 Abs.1 KSchG gekündigt und verliert sie deshalb den Massenentlassungsschutz, verstößt dies gegen die Gleichheitssätze aus Art. 3 Abs.1 und Abs.3 S.1 GG.

BVerfG 8.6.2016, 1 BvR 3634/13
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist ehemalige Arbeitnehmerin der Beklagten, einer Fluggesellschaft. Die Beklagte stellte Ende 2009 sämtliche Tätigkeit in Deutschland ein und kündigte dort allen  Arbeitnehmern. Die Kündigungen erwiesen sich im Nachhinein allesamt als unwirksam. Die Beschwerdeführerin befand sich seinerzeit in Elternzeit. Nachdem die für den Arbeitsschutz zuständige oberste Landesbehörde die Kündigung während der Elternzeit nach § 18 Abs.1 S. 2 u. 3 BEEG alter Fassung für zulässig erklärt hatte, kündigte die Beklagte im März 2010 auch ihr Arbeitsverhältnis.

Die hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage wies das ArbG ab; die Berufung blieb erfolglos. Die von der Beschwerdeführerin eingelegte Revision wies das BAG mit der Begründung zurück, die Kündigung sei nicht anzeigepflichtig gewesen. Es habe keine Massenentlassung vorgelegen, da die Kündigung der Beschwerdeführerin nicht im Zusammenhang mit den anderen Kündigungen erfolgt sei und nicht in die 30-Tage-Frist des § 17 Abs.1 S.1 KSchG falle.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführerin u.a. eine Verletzung von Art. 3 und Art. 6 GG. Sie war der Ansicht, sie werde durch das BAG-Urteil aufgrund ihrer Elternzeit diskriminiert. Hätte ihre Kündigung nicht der Zulässigerklärung bedurft, wäre ihr gleichzeitig mit den anderen Beschäftigten im Zusammenhang mit der Massenentlassung gekündigt worden und ihre Kündigung wäre nach § 17 Abs. 2 KSchG unwirksam gewesen. Da Elternzeit überwiegend von Frauen in Anspruch genommen werde, liege darin auch eine gegen Art. 3 Abs. 2 GG verstoßende faktische Benachteiligung.

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde für begründet erachtet, das Revisionsurteil aufgehoben und die Sache an das BAG zurückverwiesen.

Die Gründe:
Es verstößt gegen Art. 3 Abs.1 GG, die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Elternzeit, die unmittelbar an die verfassungsrechtlich in Art. 6 Abs.1 GG geschützte Elternschaft anknüpft, vom Anwendungsbereich des Massenentlassungsschutzes auszuschließen.

Der Ausschluss beruht auf der Auffassung des BAG, den Massenentlassungsschutz auch für Personen in Elternzeit  anhand des Zeitpunkts des Kündigungszugangs zu bestimmen. In bestimmten Fällen folgt daraus ein geringeres Schutzniveau für Personen, die besonderen Kündigungsschutz genießen. Insbesondere im Fall einer Betriebsstilllegung erklärt die zuständige Landesbehörde die Kündigung trotz Elternzeit regelmäßig für zulässig. Das Warten auf die Erklärung führt aber dazu, dass die Kündigung erst außerhalb des für eine Massenentlassung i.S.v. § 17 Abs.1 S.1 KSchG relevanten Zeitraums (30-Tage-Frist) erklärt werden kann.
 
Eine Rechtfertigung dieser Benachteiligung von Personen in Elternzeit, an die wegen des Zusammenhangs mit Art. 6 GG erhöhte Anforderungen zu stellen sind, kann nicht daraus hergeleitet werden, dass § 18 Abs.1 BEEG alter Fassung  gleichwertigen Kündigungsschutz eröffnet. Die in § 17 KSchG statuierte Anzeigepflicht, die Gestaltungsoptionen des Betriebsrates und die frühzeitige Einschaltung der Agentur für Arbeit vor Ausspruch der Kündigung werden denjenigen genommen, die aufgrund besonderer Schutznormen aus dem Verfahren der Massenentlassung herausfallen. Dieser Nachteil wird nicht dadurch kompensiert, dass es aufgrund des Verwaltungsverfahrens, mit dem das Kündigungsverbot aufgehoben werden soll, regelmäßig zu einem späteren Kündigungstermin kommt.

Die Entscheidung des BAG verstößt zudem gegen den speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs.3 S.1 GG. Das Geschlecht darf auch aufgrund des Gleichberechtigungsgebots in Art. 3 Abs.2 GG grundsätzlich nicht als Anknüpfungspunkt für rechtlich oder faktisch nachteilige Ungleichbehandlungen herangezogen werden. Die Auffassung des BAG führt zu einer faktischen Benachteiligung wegen des Geschlechts. Zwar knüpft die Schlechterstellung an die Elternschaft an, doch trifft sie Frauen erheblich stärker als Männer, weil Elternzeit bislang in evident höherem Maß von Frauen in Anspruch genommen wird.

Linkhinweis:

  • Der Volltext der Entscheidung ist auf der Website des BVerfG veröffentlicht.
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