17.04.2015

Tarifliche Sonderrechte für Gewerkschaftsmitglieder dürfen an eine Stichtagsregelung anknüpfen

Ein Haustarifvertrag mit sozialplanähnlichen Regelungen kann vorsehen, dass Gewerkschaftsmitglieder höhere Leistungen zur Abmilderung der wirtschaftlichen und sozialen Nachteile erhalten als nicht tarifgebundene Arbeitnehmer, und diese Sonderregelung auf Gewerkschaftsmitglieder beschränken, die bis zu einem bestimmten Stichtag Gewerkschaftsmitglieder geworden sind. Hierin liegt keine sog. einfache Differenzierungsklausel oder eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes aus § 75 BetrVG.

BAG 15.4.2015, 4 AZR 796/13
+++ Der Sachverhalt:
Die Klägerin verlangte mit ihre Klage von den Beklagten zu 1) und 2) Leistungen nach einem Haustarifvertrag.

Die ursprüngliche Arbeitgeberin der Klägerin, die Beklagte zu 2), wollte Anfang 2012 ihren Betrieb in München schließen. Nach Verhandlungen mit dem Betriebsrat und der zuständigen IG Metall gab sie diesen Plan auf und schloss mit der IG Metall am 4.4.2012 einen "Transfer- und Sozialtarifvertrag" (TV) mit folgenden Inhalten:

  • Die Arbeitnehmer haben gegen die Beklagte zu 2) einen Abfindungsanspruch i.H.v. bis zu 110.000 Euro, sollte das Arbeitsverhältnis zum 30.4.2012 beendet werden.
  • Mit der Kündigung wird ein "Transferarbeitsverhältnis" mit der Beklagten zu 1) in einer betriebsorganisatorisch eigenständigen Einheit (beE) durch Abschluss eines dreiseitigen Vertrags begründet.
  • Für das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten zu 1) gelten Mindestbedingungen, u.a. ein "beEMonatsentgelt" von 70 % des bisherigen Bruttomonatseinkommens.

Ebenfalls am 4.4. 2012 einigten sich die Beklagte zu 2) und der Betriebsrat auf einen "Interessenausgleich", nach dem sie die Regelungen des TV "für alle betroffenen Beschäftigten abschließend übernehmen". Zudem schlossen die Beklagte zu 2) und die IG Metall einen weiteren, ergänzenden Tarifvertrag (ETV), der nach seinem persönlichen Geltungsbereich nur für Gewerkschaftsmitglieder galt, "die bis einschließlich 23.3.2012, 12.00 Uhr Mitglied der IG Metall geworden sind". Der ETV regelte eine weitere Abfindung von 10.000 Euro sowie eine um 10 Prozent höhere Bemessungsgrundlage für das "beE-Monatsentgelt".

Die Klägerin unterzeichnete mit den beiden Beklagten eine dreiseitige Vereinbarung, in der für den Abfindungsanspruch und die Monatsvergütung auf die beiden Tarifverträge Bezug genommen worden ist. In der Zeit von Juli 2012 bis Januar 2013 war sie Mitglied der IG Metall. Sie verlangte von den Beklagten die im ETV vorgesehenen weiteren Leistungen. Ihre hierauf gerichtete Klage blieb in allen Instanzen ohne Erfolg.

+++ Die Gründe:
Die Klägerin hat keinen Anspruch gegen die Beklagten auf Leistungen nach dem ETV, da sie am 23.3.2012 noch kein Gewerkschaftsmitglied war und damit der persönliche Anwendungsbereich des ETV nicht eröffnet ist. Die in diesem Tarifvertrag enthaltene Stichtagsregelung ist wirksam.

Keine Anwendbarkeit der Grundsätze zur "einfachen Differenzierungsklausel"
Entgegen der Auffassung der Klägerin handelt es sich bei der Stichtagsregelung nicht um eine sog. einfache Differenzierungsklausel, die zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und sog. Außenseitern (nicht bzw. anders tarifgebundenen Arbeitnehmern) unterscheidet. Denn der TV und der ETV differenzieren in ihrem personellen Geltungsbereich zwischen verschiedenen Gruppen von Mitgliedern der IG Metall und damit allein zwischen tarifgebundenen Arbeitnehmern. Die Stichtagsregelung formuliert damit lediglich Anspruchsvoraussetzungen für tarifliche Leistungen.

Wirksamer tariflicher Regelungsgegenstand
Die Bestimmungen des ETV sind auch im Hinblick auf den tariflichen Regelungsgegenstand wirksam. Die Tarifvertragsparteien haben bei der Bestimmung von Umfang und Voraussetzungen von Ausgleichs- und Überbrückungsleistungen anlässlich einer Teilbetriebsstillegung einen weiten Gestaltungsspielraum. Dieser wurde hier nicht überschritten. Die Stichtagsregelung orientiert sich am gegebenen Sachverhalt der beabsichtigten Betriebsänderung als einmaligem Vorgang sowie den damit verbundenen Leistungen unter Berücksichtigung des ausgehandelten Tarifvolumens.

Kein Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit
Die Bestimmungen des ETV verstoßen auch nicht gegen die sog. negative Koalitionsfreiheit. Die tarifliche Regelungsbefugnis ist von Verfassungs und Gesetzes wegen auf die Mitglieder der tarifschließenden Verbände (hier: IG-Metall-Mitglieder) beschränkt. Die "Binnendifferenzierung" zwischen Gewerkschaftsmitgliedern schränkt weder die Handlungs- und Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ein noch die der sog. Außenseiter.

Den Nichtmitgliedern der IG-Metall bleibt es daher unbenommen, ihre vertraglichen Beziehungen frei zu gestalten. Von den Regelungen des ETV kann ihnen gegenüber kein "höherer Druck" ausgehen als derjenige, der sich immer ergibt, wenn die individualvertraglichen Vereinbarungen hinter denjenigen eines Tarifvertrags für die Mitglieder der Gewerkschaft zurückbleiben.

Kein Verstoß gegen das AGG
Der Verweis in der dreiseitigen Vereinbarung auf die unterschiedlichen tariflichen Regelungen des TV und des ETV ist nach der Rechtsprechung des Senats (BAG, Urt. v. 21.5.2014 - 4 AZR 50/13) nicht anhand des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes zu überprüfen. Er setzt lediglich die in den beiden Tarifverträgen vorgegebenen Regelungen für die Ausgestaltung des dreiseitigen Vertrags zwischen den Parteien um.

Kein Verstoß gegen § 75 Satz 1 BetrVG
Der "Interessenausgleich" verstößt auch nicht gegen den betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 75 Satz 1 BetrVG. Die Betriebsparteien haben lediglich die Regelungen des TV übernommen, nicht aber die des ETV. Damit haben sie gerade davon abgesehen, Bestimmungen mit einzubeziehen, die an eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt anknüpfen.

+++ Der Hintergrund:
Beim 4. Senat des BAG sind derzeit insgesamt etwa 100 weitere Verfahren mit vergleichbarem Sachverhalt anhängig.

+++ Linkhinweis:
Der Volltext der Entscheidung wird demnächst auf den Webseiten des BAG veröffentlicht. Für die Pressemitteilung des BAG klicken Sie bitte hier.

Die ebenfalls auf den Webseiten des BAG veröffentlichte Entscheidung vom 21.5.2014 (Az.: 4 AZR 50/13) finden Sie hier.

BAG PM Nr. 20/15 vom 15.4.2015
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