12.05.2017

Verfassungsunmittelbarer Anspruch auf eine spezielle Krankenversorgung nur bei naher Lebensgefahr in einer notstandsähnlichen Situation

Ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf eine Krankenversorgung, die über den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen hinausgeht, ist aufgrund des Ausnahmecharakters des Leistungsanspruchs nur bei naher Lebensgefahr in individuellen notstandsähnlichen Situationen gegeben, um das Leben zu erhalten.

BVerfG 11.4.2017, 1 BvR 452/17
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist an einer Autoimmunerkrankung erkrankt, die mit diversen Folgeerkrankungen und Komplikationen, u.a. einer bereits mehrfach erlittenen starken Anschwellung der Zunge, einhergeht. Um der Erstickungsgefahr bei einer solchen Zungenanschwellung zu entgehen, trug die Beschwerdeführerin immer ein Notfallset mit sich. Sie beantragte bei ihrer gesetzlichen Krankenkasse die Kostenübernahme für eine intravenöse Immunglobulintherapie (IVIG-Therapie) zur Besserung ihres Zustands. Die Krankenkasse lehnte den Antrag ab, da die Voraussetzungen für einen sog. "Off-Label-Use" der Immunglobuline, die für die Behandlung der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Krankheit nicht zugelassen sind, nicht vorlägen.

Die Beschwerdeführerin erhob hiergegen Klage vor dem Sozialgericht. Dieses gab der Klage statt und verurteilte die beklagte Krankenkasse zur Kostenübernahme. Die Berufung der Beklagten hatte vor dem LSG keinen Erfolg. Auf die Revision der Beklagten hob das BSG die Entscheidungen des Sozialgerichts und LSG auf.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde machte die Beschwerdeführerin geltend, dass ihr ein Anspruch auf Kostenübernahme zustehe, da eine lebensbedrohliche seltene Krankheit vorliege, für die es keine gängigen Behandlungsmethoden, insbesondere keine zugelassenen Medikamente, gäbe.

Die Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig und war daher nicht zur Entscheidung anzunehmen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 6.12.2005 - 1 BvR 347/98 [BVerfGE 115, 25]) besteht ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Krankenversorgung aus der allg. Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), dem Sozialstaatprinzip und dem Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), wenn bei lebensbedrohlichen und regelmäßig tödlichen Krankheiten Behandlungsmethoden, die von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden, nicht vorliegen und darüber hinaus die vom Erkrankten gewählte erwünschte Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte Prognose einer Heilung oder messbaren Besserung zulässt.

Ein solcher nur ausnahmsweise bestehender Leistungsanspruch ist restriktiv auszulegen. Danach liegt eine notwendige Gefahr erst bei einer individuellen notstandsähnlichen Situation vor, in der eine akute Lebensgefahr besteht und zur Lebenserhaltung eine bestimmte Behandlung notwendig und typisch ist.

Legt man diese Maßstäbe zugrunde, hat die Beschwerdeführerin eine mögliche Grundrechtsverletzung nicht hinreichend bestimmt geltend gemacht. Ein Medikament, welches potentiell tödliche Komplikationen ausreichend zuverlässig verhindern kann, ist von dem Anspruch nicht erfasst. Liegt eine notstandsähnliche Gefahrenlage nicht vor, gibt es keinen Grund, das Leistungsrecht der Krankenkassen durch einen verfassungsunmittelbaren abgeleiteten Leistungsanspruch zu erweitern.

Linkhinweis:
Für den auf den Webseiten des Bundesverfassungsgerichts veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

Quelle: BVerfG PM Nr. 33/2017 vom 11.5.2017
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