01.04.2015

Änderungsbefugnis wegen neuer Tatsachen bei Aufnahme von Vorläufigkeitsvermerken

In Fällen, in denen ein Steuerbescheid geändert wird und dabei bestimmte Tatsachen nicht berücksichtigt wurden, können diese Tatsachen bei einer beabsichtigten späteren Änderung nach § 173 AO nicht (mehr) als neu angesehen werden, wenn nach § 88 AO Anlass bestand, dass sie bereits bei Erlass des Änderungsbescheids zu berücksichtigen sind. Ist das Finanzamt im Rahmen der Änderung eines Steuerbescheids zur (umfassenden) Berücksichtigung aller bis dahin bekanntgewordenen Tatsachen nicht verpflichtet, bleibt eine Änderung nach § 173 AO möglich.

BFH 18.12.2014, VI R 21/13
Der Sachverhalt:
Nach Eingang der Einkommensteuererklärung der Klägerin am 29.3.2006 setzte das Finanzamt am 26.6.2006 ihr gegenüber die Einkommensteuer für das Streitjahr 2004 fest. Dagegen legte die Klägerin Einspruch ein. Sie beantragte wegen des Todes ihres Ehemannes im Juli 2004 die Berücksichtigung eines Entlastungsbetrages für Alleinerziehende gem. § 24b EStG i.H.v. 654 €. Darüber hinaus bat sie um Ruhen des Verfahrens hinsichtlich anhängiger Musterverfahren beim BFH bzw. beim BVerfG.

Am 13.7.2006 erließ das Finanzamt einen Änderungsbescheid, in dem es einen Entlastungsbetrag gewährte. Es erläuterte zudem, dass sich der Einspruch hierdurch nicht erledige. Es handele sich vielmehr um eine Teilabhilfe. Dem Antrag auf Ruhen des Verfahrens wurde zugestimmt. Gegen den Änderungsbescheid legte die Klägerin erneut Einspruch ein und trug vor, dass der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende zu niedrig sei. Mit Bescheid vom 24.7.2006 berücksichtigte das Finanzamt den Entlastungsbetrag in voller Höhe mit den gleichen Erläuterungen wie im vorherigen Bescheid.

Mit Schreiben vom 23.4.2009 teilte das Finanzamt der Klägerin mit, dass ein Ruhen des Verfahrens nicht länger in Betracht komme. Es stellte der Klägerin jedoch in Aussicht, hinsichtlich einiger Punkte "im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit und verfassungskonforme Auslegung der Norm" die Steuerfestsetzung vorläufig vorzunehmen. Mit Bescheid vom 15.6.2009 verfuhr die Behörde wie angekündigt und nahm entsprechende Vorläufigkeitsvermerke in den Bescheid auf. Im Übrigen blieb dieser unverändert. Zudem wurde der Klägerin mitgeteilt, dass sich ihr Einspruch/Antrag dadurch erledigt habe.

Am 9.3.2010 erließ das Finanzamt erneut einen geänderten Einkommensteuerbescheid, in dem eine Prüfungsmitteilung, resultierend aus einer beim Arbeitgeber der Klägerin durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung, ausgewertet worden war. Angesetzt wurde ein geldwerter Vorteil aufgrund einer Kfz-Überlassung an die Klägerin. Der Bescheid enthielt die Feststellung: "Der Bescheid ist nach § 129 AO berichtigt."

Das FG wies die hiergegen gerichtete Klage ab. Auch die Revision der Klägerin vor dem BFH blieb erfolglos.

Gründe:
Der Änderungsbescheid 2004 vom 9.3.2010 war rechtmäßig.

Ist der ursprüngliche Steuerbescheid (hier: der Teilabhilfebescheid v. 24.7.2006) geändert und wurden im Änderungsbescheid (hier v. 15.6.2009) bestimmte Tatsachen nicht berücksichtigt (hier: die Prüfungsmitteilung), sind diese Tatsachen bei einer beabsichtigten späteren Änderung nach § 173 AO nicht (mehr) neu, wenn nach § 88 AO Anlass bestand, sie bereits bei Erlass des Änderungsbescheids zu berücksichtigen. Denn der Änderungsbescheid tritt verfahrensrechtlich an die Stelle des ursprünglichen Bescheides. Tatsachen und Beweismittel, die bei der abschließenden Zeichnung des Änderungsbescheids schon vorhanden waren, aber nicht berücksichtigt wurden, berechtigen nach Eintritt der Bestandskraft nicht mehr zur Korrektur nach § 173 AO.

Verpflichtet hingegen die beabsichtigte Änderung nach ihrer Art nicht zur weiteren Sachprüfung, bleibt eine spätere Änderung des (vorherigen) Änderungsbescheids nach § 173 AO möglich. Eine solche Pflicht zur (umfassenden) Berücksichtigung aller bis dahin bekanntgewordenen Tatsachen besteht insbesondere nicht bei Änderungen nach § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO, bei denen das Finanzamt den Grundlagenbescheid ohne eigene Sachprüfung übernehmen muss. Entsprechendes gilt in Fällen des § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO. Auch in diesen Massenrechtsbehelfsverfahren, die allein darauf abzielen, dem Steuerpflichtigen eine spätere materielle Änderung zu ermöglichen, wenn das Musterverfahren Erfolg hat, ist das Finanzamt lediglich zu einer punktuellen Überprüfung des Steuerbescheids im Hinblick auf den Vorläufigkeitsausspruch verpflichtet.

Nur soweit im Einzelfall eine dort benannte "Ungewissheit über das anzuwendende Recht" vorliegt, darf insbesondere zur Vermeidung von Massenrechtsbehelfsverfahren eine Vorläufigkeitserklärung erfolgen. Darüber haben die Finanzbehörden nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Dementsprechend wird dem Antrag (Einspruch) des Steuerpflichtigen, den Einkommensteuerbescheid hinsichtlich einer der in § 165 Abs. 1 S. 2 AO benannten Vorläufigkeitsgründe für vorläufig zu erklären, ohne nähere Prüfung stattgegeben, sofern dies verwaltungsinternen Anweisungen entspricht. Deshalb brauchen bei einer Änderung der Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 S. 2 AO andere als die die Ungewissheit betreffenden Tatsachen nicht berücksichtigt werden, auch wenn sie den Finanzbehörden zum Zeitpunkt dieser Änderung bekannt sind oder als Bestandteil der Akten des zu veranlagenden Steuerpflichtigen als bekannt gelten.

Linkhinweis:

  • Der Volltext der Entscheidung ist auf der Homepage des BFH veröffentlicht.
  • Um direkt zum Volltext zu kommen, klicken Sie bitte hier.
BFH online
Zurück