24.10.2014

Tarifkunden: Versorger müssen rechtzeitig und umfassend über Preiserhöhung informieren

Verbraucher, die im Rahmen der allgemeinen Versorgungspflicht mit Strom und Gas beliefert werden, müssen rechtzeitig vor Inkrafttreten jeder Preiserhöhung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden. Da die vorliegend in Rede stehende deutsche Regelung eine solche Information nicht vorsieht, verstößt sie gegen die "Stromrichtlinie" 2003/54 und gegen die "Gasrichtlinie" 2003/55.

EuGH 23.10.2014, C-359/11 u.a.
Der Sachverhalt:
Der BGH ist mit zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen Strom- und Gaskunden und ihren Versorgern betreffend mehrere Preiserhöhungen in den Jahren 2005 bis 2008 befasst. Die klagenden Kunden fallen unter die allgemeine Versorgungspflicht, das heißt, sie sind sog. Tarifkunden. In diesem Fall muss der Versorger im Rahmen der durch die nationalen Rechtsvorschriften auferlegten Verpflichtungen zu den dort vorgesehenen Bedingungen mit den dazu berechtigten Kunden, die darum ersuchen, Verträge schließen. Die Kläger sind der Ansicht, dass die beanstandeten Erhöhungen unbillig sind und auf rechtswidrigen Klauseln beruhen.

Die allgemeinen Bedingungen der mit Verbrauchern geschlossenen Verträge waren durch die im maßgeblichen Zeitraum geltende deutsche Regelung (AVBGasV, AVBEltV und StromGVV) bestimmt und aufgrund dieser Regelung unmittelbarer Bestandteil der mit den Tarifkunden geschlossenen Verträge. Die Regelung erlaubte es den Versorgern, die Strom- und Gaspreise einseitig zu ändern, ohne den Anlass, die Voraussetzungen oder den Umfang der Änderung anzugeben, stellte jedoch sicher, dass die Kunden über die Preiserhöhung benachrichtigt wurden und den Vertrag ggf. kündigen konnten.

Der BGH möchte in diesem Zusammenhang vom EuGH wissen, ob die "Stromrichtlinie" 2003/54 und gegen die "Gasrichtlinie" 2003/55 dahin auszulegen sind, dass eine nationale gesetzliche Regelung über Preisänderungen in Erdgas- oder Stromlieferungsverträgen mit Haushaltskunden, die im Rahmen der allgemeinen Versorgungspflicht beliefert werden (Tarifkunden), den Anforderungen an das erforderliche Maß an Transparenz genügt, wenn in ihr Anlass, Voraussetzungen und Umfang einer Preisänderung zwar nicht wiedergegeben sind, jedoch sichergestellt ist, dass das Versorgungsunternehmen seinen Kunden jede Preiserhöhung mit angemessener Frist im Voraus mitteilt und den Kunden das Recht zusteht, sich durch Kündigung vom Vertrag zu lösen, wenn sie die ihnen mitgeteilten geänderten Bedingungen nicht akzeptieren wollen.

Die Gründe:
Die "Stromrichtlinie" 2003/543 und die "Gasrichtlinie" 2003/554 stehen einer nationalen Regelung (wie der vorliegend in Rede stehenden deutschen Regelung) entgegen, die den Inhalt von Strom- und Gaslieferungsverträgen mit Verbrauchern, die unter die allgemeine Versorgungspflicht fallen, bestimmt und für die Versorger die Möglichkeit vorsieht, den Tarif dieser Lieferungen zu ändern, ohne jedoch zu gewährleisten, dass die Verbraucher rechtzeitig vor Inkrafttreten der Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden.

Die Mitgliedstaaten müssen gemäß diesen beiden Richtlinien in Bezug auf die Transparenz der allgemeinen Vertragsbedingungen einen hohen Verbraucherschutz gewährleisten. Den Kunden muss neben ihrem (in den Richtlinien für den Fall einer Preisänderung vorgesehenen) Recht, sich vom Liefervertrag zu lösen, auch die Befugnis erteilt werden, gegen eine solche Änderung vorzugehen. Um diese Rechte in vollem Umfang und tatsächlich nutzen und in voller Sachkenntnis eine Entscheidung über eine mögliche Lösung vom Vertrag oder ein Vorgehen gegen die Änderung des Lieferpreises treffen zu können, müssen die unter die allgemeine Versorgungspflicht fallenden Kunden rechtzeitig vor dem Inkrafttreten der Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden.

Den Antrag, die finanziellen Folgen des Urteils so weit wie möglich zu beschränken, war zurückzuweisen, eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen des Urteils insoweit abzulehnen. Es wurde nicht dargelegt, dass die Infragestellung der Rechtsverhältnisse, deren Wirkungen sich in der Vergangenheit erschöpft haben, rückwirkend die gesamte Branche der Strom- und Gasversorgung in Deutschland erschüttern würde. Die Auslegung der Richtlinien 2003/54 und 2003/55 gilt somit für alle im zeitlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinien erfolgten Änderungen.

Hintergrund:
Zur Informationspflicht gegenüber Kunden, für die ein Sondertarif gilt (Sonderkunden), hat der EuGH bereits mit Urteil vom 21.3.2013 entschieden (RWE Vertrieb - C-92/11). Nach diesem Urteil sind die dem Verbraucher vor Vertragsschluss in transparenter Weise übermittelten Informationen zum Anlass und zum Modus einer Änderung der Entgelte für die Gasversorgung von wesentlicher Bedeutung. Diese Feststellung gilt jedoch nicht für die Verträge, die mit Kunden geschlossen wurden, die unter den Standardtarif fallen (Tarifkunden, wie in den vorliegenden Rechtssachen).

Die mit den betreffenden Kunden in der Rechtssache RWE Vertrieb (Sonderkunden) geschlossenen Verträge wurden nämlich nicht nur durch die Richtlinie 2003/55 geregelt, sondern auch durch die Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen. Der Inhalt der mit den Tarifkunden geschlossenen Verträge wird aber durch bindende deutsche Rechtsvorschriften bestimmt, so dass die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln auf sie nicht anwendbar ist.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 140 vom 23.10.2014
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