20.11.2012

BAG lockert Streikverbot in kirchlichen Einrichtungen - Aber Bestätigung des "Dritten Wegs"

Werden die Arbeitsbedingungen in einer kirchlichen Einrichtung in einer paritätisch mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern besetzten Kommission ausgehandelt (sog. "Dritter Weg"), dürfen Gewerkschaften in diesen Einrichtungen grds. nicht zu einem Streik aufrufen. Das gilt aber nur, soweit Gewerkschaften in dieses Verfahren organisatorisch eingebunden sind und das Verhandlungsergebnis für die Arbeitgeberseite als Mindestarbeitsbedingung verbindlich ist.

BAG 20.11.2012, 1 AZR 179/11
+++ Der Sachverhalt:
Die beklagte Gewerkschaft ver.di hatte u.a. bei der Evangelischen Kirche von Westfalen, der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und einigen Diakonischen Werken zu Warnstreiks aufgerufen. Hiergegen richteten sich die Klagen der betroffenen kirchlichen Einrichtungen, mit denen ver.di verpflichtet werden sollte, solche Streikaufrufe künftig zu unterlassen.

Zur Begründung machten die Kläger geltend, durch die Streiks in ihrem grundrechtlich geschützten kirchlichen Selbstbestimmungsrecht verletzt zu werden. Ver.di vertrat demgegenüber die Auffassung, dass sie aufgrund ihrer verfassungsrechtlich vorbehaltlos eingeräumten Koalitionsbetätigungsfreiheit auch in kirchlichen Einrichtungen zu Streiks aufrufen dürfe.

Das LAG wies die Unterlassungsklagen ab. Die hiergegen gerichteten Revisionen hatten vor dem BAG keinen Erfolg.

+++ Die Gründe:
Streikaufrufe in kirchlichen Einrichtungen, in denen die Arbeitsbedingungen in einer paritätisch besetzten Kommission ausgehandelt und Konflikte durch den neutralen Vorsitzenden einer Schlichtungskommission gelöst werden (sog. Dritter Weg), sind nicht generell unzulässig. Zwar beeinträchtigen Streikaufrufe hier das kirchliche Selbstbestimmungsrecht. Der Eingriff kann aber gerechtfertigt sein.

In solchen Fällen kommt es zu einer Grundrechtskollision, die einem schonenden Ausgleich nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz zuzuführen ist:

  • Auf Seiten der kirchlichen Einrichtungen ist das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV zu beachten. Sein Schutzbereich umfasst auch die Entscheidung, die Arbeitsbedingungen der in der Diakonie beschäftigten Arbeitnehmer nicht mit Gewerkschaften durch Tarifverträge zu regeln, sondern entsprechend ihrem religiösen Bekenntnis einem eigenständigen, am Leitbild der Dienstgemeinschaft ausgerichteten Verfahren wie dem sog. "Dritten Weg" zu überantworten. Ein Arbeitskampf zur Erzwingung von Tarifverträgen beeinträchtigt in schwerwiegender Weise das diakonische Wirken und beschädigt die Glaubwürdigkeit der Kirche.
  • Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht kollidiert mit der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsfreiheit einer Gewerkschaft. Wesentlicher Zweck der Koalitionsfreiheit ist der Abschluss von Tarifverträgen zur Regelung der Mindestarbeitsbedingungen ihrer Mitglieder. Geschützt sind auch Arbeitskampfmaßnahmen, soweit sie funktional auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Ein genereller Ausschluss von Streiks in kirchlichen Einrichtungen bewirkt eine substanzielle Beschränkung des Koalitionsbetätigungsrechts. Zudem werden die Möglichkeiten zur Mitgliederwerbung ganz erheblich gemindert.

Die Gewichtung dieser grundrechtlich geschützten Belange zur Herstellung praktischer Konkordanz lässt ein Zurücktreten der Rechte einer Gewerkschaft nur zu, sofern

  • die Gewerkschaft sich innerhalb des Dritten Weges noch koalitionsmäßig betätigen kann,
  • die Arbeitsrechtssetzung auf dem Dritten Weg für die Dienstgeber verbindlich ist und
  • als Mindestarbeitsbedingung den Arbeitsverträgen auch zugrunde gelegt wird.

Nach diesen Grundsätzen waren die Klagen abzuweisen, weil für die Arbeitgeberseite die Möglichkeit besteht, einseitig zwischen unterschiedlichen Arbeitsrechtsregelungen des Dritten Weges zu wählen.

+++ Linkhinweis:
Der Volltext der Entscheidung wird demnächst auf den Webseiten des BAG veröffentlicht.Für die Pressemitteilung des BAG klicken Sie bitte hier.

BAG PM Nr. 81 vom 20.11.2012
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