29.07.2014

Morbide Adipositas kann eine "Behinderung" i.S.d. Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf darstellen

Es gibt keinen allgemeinen Grundsatz im Unionsrecht, der Diskriminierungen wegen eines eigenständigen Diskriminierungsgrundes der Adipositas ("Fettleibigkeit") verbietet. Allerdings kann morbide Adipositas (krankhaftes Übergewicht/BMI über 40) unter den Begriff "Behinderung" fallen, wenn sie so gravierend ist, dass sie ein Hindernis für die volle, mit anderen Arbeitnehmern gleichberechtigte Teilhabe am Berufsleben darstellt.

EuGH-Generalanwalt 17.7.2014, C-354/13
Der Sachverhalt:
Der Kläger hatte 15 Jahre lang für eine Gemeinde in Dänemark als Tagesvater in einem Heim Kinder betreut. Im November 2010 wurde das Beschäftigungsverhältnis beendet. Die Kündigung wurde mit einem Rückgang der Zahl zu betreuender Kinder begründet. Eine ausdrückliche Begründung dafür, dass gerade er entlassen wurde, gab es nicht. Während der Dauer seiner Beschäftigung wog der Kläger nie weniger als 160 kg; mit einem BMI von 54 war er daher als adipös einzustufen.

Seine Adipositas wurde bei seiner offiziellen Anhörung anlässlich der Kündigung erörtert; zwischen den Parteien besteht aber Uneinigkeit darüber, warum dies geschah, und die beklagte Gemeinde bestreitet, dass die Adipositas in die Entscheidungsgrundlage für die Kündigung eingegangen sei. Der Kläger hingegen macht geltend, dass seine Entlassung auf einer rechtswidrigen Diskriminierung wegen seines Gewichts beruhe. Er klagte vor einem dänischen Bezirksgericht auf Schadensersatz wegen dieser Diskriminierung.

Das Bezirksgericht hat das Verfahren ausgesetzt und den EuGH um Klarstellung ersucht, ob das Unionsrecht, insbesondere der Vertrag und die Charta, ein eigenständiges Verbot von Diskriminierungen wegen Adipositas enthält. Ferner möchte es wissen, ob Adipositas als Behinderung eingestuft werden kann und deswegen in den Anwendungsbereich der Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf fällt.

Der EuGH-Generalanwalt Niilo Jääskinen hat die erste Frage verneint und die zweite Frage bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen bejaht.

Gründe:
Es gibt keinen allgemeinen Grundsatz im Unionsrecht, der Diskriminierungen wegen eines eigenständigen Diskriminierungsgrundes der Adipositas verbietet. Ein solches Verbot könnte nur Teil eines allgemeinen, aus dem offenen Wortlaut des Art. 21 der Charta abgeleiteten Verbots jeder Art von Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt sein. Allerdings ist die Charta für die Mitgliedstaaten nur bei der Durchführung von Unionsrecht bindend, und es gibt keinen Anhaltspunkt für eine solche Durchführung einer Vorschrift des Unionsrechts über ein allgemeines Verbot von Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt durch Dänemark.

Hinsichtlich der Frage, ob Adipositas als "Behinderung" i.S.d. Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf eingestuft werden kann, ist darauf hinzuweisen, dass der EuGH, da der Begriff der Behinderung in der Richtlinie nicht definiert wird, festgestellt hat, dass unter einer "Behinderung" in diesem Zusammenhang Einschränkungen zu verstehen sind, die sich aus langfristigen physischen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen ergeben, die den Betroffenen in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen, mit anderen Arbeitnehmern gleichberechtigten Teilhabe am Berufsleben hindern können. Und auch wenn nicht jede Krankheit als Behinderung anzusehen ist, können bestimmte Krankheiten, wenn sie ärztlich diagnostiziert werden und langfristige Einschränkungen nach sich ziehen, als Behinderung i.S.d. Richtlinie eingestuft werden.

Es gibt zwar keine Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung einer Person, die für die Erfüllung der wesentlichen Funktionen des Arbeitsplatzes nicht kompetent ist, doch sind angemessene Maßnahmen zugunsten des Behinderten zu ergreifen, sofern sie nicht zu einer unverhältnismäßigen Belastung für den Arbeitgeber führen. Infolgedessen kann Adipositas dann als Behinderung angesehen werden, wenn sie ein solches Maß erreicht hat, dass sie offenkundig ein Hindernis für die Teilhabe am Berufsleben darstellt. Insofern kann nur eine schwere, extreme oder morbide Adipositas, d.h. ein BMI von über 40, zu Einschränkungen wie Problemen bei Mobilität, Belastbarkeit und Stimmung führen, die eine "Behinderung" darstellen.

Bei alledem kommt es nicht auf den Ursprung der Behinderung an. Der Begriff der Behinderung ist objektiver Art und hängt nicht davon ab, ob der Kläger durch "selbst verursachte" übermäßige Energieaufnahme ursächlich zum Eintritt seiner Behinderung beigetragen hat. Andernfalls wären körperliche Behinderungen infolge des leichtfertigen Eingehens von Risiken im Verkehr oder im Sport vom Begriff der Behinderung ausgeschlossen.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 112 v. 17.7.2014
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