11.04.2024

Schätzungsbefugnis bei Altkassen, deren objektive Manipulierbarkeit sich erst nach Jahren des Gebrauchs nachträglich herausstellt

1. Zur Begründung einer Schätzungsbefugnis dem Grunde und der Höhe nach darf der Tatrichter sich nicht mit der bloßen Benennung formeller oder materieller Mängel begnügen, sondern muss diese auch nach dem Maß ihrer Bedeutung für den konkreten Einzelfall gewichten.
2. Eine Vollschätzung unter vollständiger Verwerfung der Gewinnermittlung des Steuerpflichtigen ist nur zulässig, wenn die festgestellten Mängel gravierend sind.
3. Die Verwendung eines objektiv manipulierbaren Kassensystems stellt grundsätzlich einen formellen Mangel von hohem Gewicht dar, da in einem solchen Fall systembedingt keine Gewähr für die Vollständigkeit der Einnahmenaufzeichnungen gegeben ist.
4. Das Gewicht dieses Mangels kann sich in Anwendung des Verhältnismäßigkeits- und Vertrauensschutzgrundsatzes im Einzelfall auf ein geringeres Maß reduzieren. Das gilt insbesondere dann, wenn das Kassensystem zur Zeit seiner Nutzung verbreitet und allgemein akzeptiert war und eine tatsächliche Manipulation unwahrscheinlich ist.
5. Der in der Verwendung einer solchen objektiv manipulierbaren elektronischen Registrierkasse einfacher Bauart liegende formelle Mangel begründet keine Schätzungsbefugnis, wenn der Steuerpflichtige in überobligatorischer Weise sonstige Aufzeichnungen führt, die eine hinreichende Gewähr für die Vollständigkeit der Einnahmenerfassung bieten.
6. Bei elektronischen Registrierkassen einfacher Bauart werden Funktionen und Stand der festen Programmierung (Firmware) durch die Bedienungsanleitung dokumentiert. Änderungen von Einstellungen der Kasse sind vom Steuerpflichtigen im Zeitpunkt der Vornahme der Änderungen durch Anfertigung entsprechender Protokolle über die vorgenommenen Einstellungen zu dokumentieren (Präzisierung des Senatsurteils vom 25.03.2015 - X R 20/13, BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743, Rz 26 ff.).
7. Übergibt ein Kunde für eine Leistung des Steuerpflichtigen einen Rabattgutschein, auf den nach den Gutscheinbedingungen ein Dritter eine Zahlung an den Steuerpflichtigen leisten soll, fließt dem Steuerpflichtigen bei Gewinnermittlung durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung eine Einnahme nicht bereits mit Übergabe des Gutscheins, sondern erst in dem Zeitpunkt zu, in dem der Dritte die Zahlung an den Steuerpflichtigen leistet.

Kurzbesprechung
BFH v. 28.11.2023 - X R 3/22

AO § 145 Abs 2, § 158, § 162 Abs 1 S 1, § 162 Abs 1 S 2, § 162 Abs 2 S 2
EStG § 4 Abs 3, § 11 Abs 1
FGO § 96 Abs 1 S 1


Soweit die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann, hat sie sie zu schätzen (§ 162 Abs. 1 Satz 1 AO); dies gilt gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO auch für das Gericht.

Zu schätzen ist insbesondere dann, wenn der Steuerpflichtige Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, nicht vorlegen kann, wenn die Aufzeichnungen nach § 158 Abs. 2 AO ‑ in den Streitjahren: § 158 AO ‑ nicht der Besteuerung zugrunde gelegt werden oder wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der vom Steuerpflichtigen gemachten Angaben zu steuerpflichtigen Einnahmen bestehen (§ 162 Abs. 2 Satz 2 AO).

Nach § 158 AO sind die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen, die den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO entsprechen, der Besteuerung zugrunde zu legen, soweit nach den Umständen des Einzelfalls kein Anlass ist, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden. Formelle Mängel berechtigen nur insoweit zur Schätzung, als sie Anlass geben, die sachliche Richtigkeit des Ergebnisses der Gewinnermittlung anzuzweifeln.

Da bei der Schätzung alle Umstände zu berücksichtigen sind, die für die Schätzung von Bedeutung sind (§ 162 Abs. 1 Satz 2 AO), darf der Tatrichter sich zur Begründung einer Schätzungsbefugnis dem Grunde und der Höhe nach nicht mit der bloßen Benennung formeller oder materieller Mängel begnügen, sondern muss sie auch nach dem Maß ihrer Bedeutung für den konkreten Einzelfall gewichten. Nur durch angemessene Gewichtung des Mangels kann beurteilt werden, inwieweit nach den Umständen des Einzelfalls Anlass ist, die sachliche Richtigkeit der Aufzeichnungen zu beanstanden. Die Schwere des Mangels ist deshalb von entscheidender Bedeutung für Art und Höhe der Schätzung.

Im Streitfall entsprachen die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen nicht in allen Punkten den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO und wiesen daher formelle Mängel auf. Diese Mängel lagen allerdings weder in dem vom FG angenommenen Umfang vor noch kam ihnen das vom FG angenommene Gewicht zu.

Dies galt für die Manipulierbarkeit der vom Steuerpflichtigen verwendeten elektronischen Registrierkasse eines sehr einfachen Typs. Zwar hatte das FG festgestellt, dass diese Kasse objektiv manipulierbar war. Damit entsprach die Kasse nicht den Anforderungen des § 145 Abs. 2 AO. Darin ist grundsätzlich ein formeller Mangel von hohem Gewicht zu sehen. Das Gewicht dieses Mangels kann jedoch im Einzelfall reduziert sein, wozu im Streitfall das FG allerdings weitere Feststellungen zu treffen hätte.

Auch in Bezug auf die Feststellung und Gewichtung von materiellen Mängeln wies die angefochtene Entscheidung weitere Rechtsfehler auf, die den BFH dazu veranlasst haben, die Entscheidung der Vorinstanz aufzuheben und die Streitsache an die Vorinstanz zur weiteren Sachaufklärung und erneuten Entscheidung zurück zu verweisen.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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