21.06.2011

Steuerhinterziehung: Regelbeispiel des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO muss bei Anlass immer geprüft werden

Soweit dazu Anlass besteht, müssen die Urteilsgründe ergeben, ob Steuern "in großem Ausmaß" i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO hinterzogen wurden oder weshalb trotz des Vorliegens des Regelbeispiels ein besonders schwerer Fall nicht angenommen wird. Die Bezahlung der geschuldeten hinterzogenen Steuern ändert dabei nichts an der Indizwirkung der Überschreitung der 100.000 €-Grenze für besonders schwere Fälle.

BGH 5.5.2011, 1 StR 116/11
Der Sachverhalt:
Der Angeklagte hatte zwei Unternehmen gegründet, die er - weil er selbst über keine Arbeitserlaubnis verfügte - mit Hilfe von Strohleuten führte. In der Zeit von Juli 2007 bis Oktober 2008 tätigte er durch Scheinrechnungen abgedeckte Schwarzein- und -verkäufe von Telefonkarten. Dabei hinterzog er Umsatzsteuern i.H.v. insgesamt 2,2 Mio. €. Bei den 16 Taten reichten die jeweiligen Hinterziehungsbeträge von 19.918 € bis zu 203.952 €. Bei 13 Taten lag der Hinterziehungsbetrag über 100.000 €, acht dieser Taten wurden nach dem 1.1.2008 begangen.

Das LG hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in 16 Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Auch bei den fünf Fällen, die vor dem 1.1.2008 begangen worden waren, hat die Strafkammer der Strafzumessung den Strafrahmen des § 370 Abs. 1 AO zugrunde gelegt und Einzelstrafen von acht Monaten bis zu einem Jahr und vier Monaten verhängt. Sie hatte nicht erörtert, ob der Angeklagte aus grobem Eigennutz handelte (§ 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO in der bis zum 31.12.2007 geltenden Fassung) und - insbesondere - ob er bei den Taten nach dem 31.12.2007 (gem. der von da an geltenden Fassung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO) - Steuern in großem Ausmaß verkürzte.

Die Revision des Angeklagten vor dem BGH blieb erfolglos. Vielmehr hat der BGH entschieden, dass die Strafzumessung, soweit es die nach dem 31.12.2007 begangenen Taten betraf, in mehrfacher Hinsicht - zugunsten des Angeklagten - rechtsfehlerhaft war.

Die Gründe:
Die Strafzumessung genügte nicht den gesetzlichen Begründungsanforderungen des § 267 Abs. 3 S. 3 StPO.

Es lag ein Begründungsmangel vor, weil die Strafkammer nicht geprüft hatte, ob bei Hinterziehungsbeträgen ab 100.000 € das gesetzliche Merkmal "in großem Ausmaß" gem. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO gegeben war. Aber selbst dann, wenn die Strafkammer richtigerweise das Regelbeispiel in diesen Fällen bejaht hätte, wäre die Nichtannahme eines besonders schweren Falles hier ein Wertungsfehler gewesen. Dadurch war der Angeklagte allerdings nicht beschwert.

Zwar kann nach BGH-Rechtsprechung die indizielle Bedeutung des Regelbeispiels durch andere Strafzumessungsfaktoren kompensiert werden, doch müssen diese dann so schwer wiegen, dass die Anwendung des erschwerten Strafrahmens unangemessen erscheint. Ob dies so ist, kann der Strafrichter allerdings erst nach umfassender Abwägung aller Umstände entscheiden. Dabei dürfen jedenfalls die Umstände, welche das Regelbeispiel begründen, nicht unberücksichtigt bleiben. Vielmehr müssen diese zunächst im Vordergrund der Abwägung stehen.

Indem die Strafkammer das Regelbeispiel nicht geprüft hatte, hat es sich den Blick dafür verstellt, bei der Wahl des Strafrahmens zu erörtern, ob die indizielle Bedeutung des Regelbeispiels durch andere - für den Angeklagten sprechende - Strafzumessungsfaktoren kompensiert wurde. Milderungsgründe, die so schwer wiegen könnten, dass die Anwendung des erschwerten Strafrahmens unangemessen erscheint, waren hier nicht in ausreichendem Maße dargetan. Vor allem änderte die Bezahlung der geschuldeten hinterzogenen Steuern nichts an der Indizwirkung der Überschreitung der 100.000 €-Grenze für besonders schwere Fälle. Denn hierbei ist schon berücksichtigt, dass es lediglich zu einer Gefährdung des Steueranspruchs kommt.

Bei der Staatsanwaltschaft hätte deshalb - auch im Rahmen der Dienstaufsicht - Anlass bestehen können, zu prüfen, ob Handlungsbedarf gem. Nr. 147 Abs. 1 S. 3 RiStBV besteht. Eine etwaige Verständigung gem. § 257c StPO hätte dem nicht entgegengestanden. Denn auch dann darf das Ergebnis nicht unterhalb "der Grenze dessen liegen, was noch als schuldangemessene Sanktion hingenommen werden kann". Der Staatsanwalt ist gegebenenfalls gehalten, durch entsprechende Anregungen an das Gericht auf die Vermeidung von Protokollierungsfehlern oder -lücken hinzuwirken.

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