13.04.2012

Auch ein selbstbewusster Patient darf nicht nachlässiger behandelt werden

Auch wenn ein selbstbewusst und sachkundig auftretender Patient eine laienhafte Eigendiagnose stellt, muss ein Arzt diese kritisch betrachten und den Patienten sorgfältig und medizinisch umfassend befragen. Wird aufgrund einer unzureichenden Anamnese die sonst zweifelsfrei erforderliche Hinzuziehung eines anderen Facharztes unterlassen, haftet der erstbehandelnde Arzt den Hinterbliebenen auf Schadensersatz.

OLG Koblenz 30.1.2012, 5 U 857/11
Sachverhalt:
Der 36-jährige Vater und Ehemann der Kläger war Rettungssanitäter von Beruf. An einem Nachmittag im Mai 2007 wurde er von zwei Kollegen mit dem Krankenwagen zum beklagten Arzt, einem Orthopäden, gebracht. Dort berichtete er von außergewöhnlich starken Schmerzen in der linken Körperseite und äußerte den Verdacht, Ursache der Schmerzen sei eine Einklemmung eines Nervs im Bereich der Halswirbelsäule. Der sehr selbstbewusst und sachkundig auftretende Patient erwähnte zudem, das Ganze sei bereits internistisch abgeklärt worden. Damit meinte er allerdings eine im Vorjahr erfolgte internistische Befunderhebung, während der Beklagte davon ausging, die internistische Untersuchung sei am selben Tage erfolgt.

Der Beklagte diagnostizierte eine Querwirbelblockade und eine Muskelverspannung und entließ den Patienten nach einer halben Stunde. Nur eine Stunde später fand ihn seine Ehefrau bewusstlos im Bad. Der herbeigerufene Notarzt stellte nach vergeblichen Wiederbelebungsversuchen den Tod fest. Todesursächlich war ein akuter vollständiger Verschluss der rechten Herzkranzarterie.

Das LG gab der Schadensersatzklage der Hinterbliebenen statt. Die unterbliebene internistische Abklärung trotz vorhandener Leitsymptome eines Herzinfarktes sei ein grober Behandlungsfehler. Der Beklagte war weiterhin der Ansicht, aufgrund der irreführenden Angaben des Patienten sei er lediglich verpflichtet gewesen, eine Untersuchung auf seinem orthopädischen Fachgebiet vorzunehmen. Seine Berufung blieb allerdings vor dem OLG erfolglos. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, da der Beklagte Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH eingelegt hat.

Gründe:
Die Schadensersatzansprüche der Hinterbliebenen hinsichtlich sämtlicher materiellen und immateriellen Schäden sind berechtigt.

Ein Arzt ist unabhängig von seinem Fachgebiet gegenüber dem Patienten verpflichtet, alles zur Erforschung und Behebung einer Erkrankung Erforderliche zu unternehmen. Jeder Arzt muss laienhafte "Diagnosen" mit kritischer Distanz aufnehmen, um dann eigenverantwortlich sämtliche objektive Befunde zu erheben. Somit war der Beklagte verpflichtet gewesen, das erstmalige Auftreten und die Entwicklung der geschilderten Schmerzen genauer zu erfragen. Wäre er dieser Verpflichtung nachgekommen, hätte sich zweifelsfrei ergeben, dass die Schmerzen erst vor einer Stunde aufgetreten waren und eine vorherige internistische Abklärung am selben Tage nicht erfolgt sein konnte.

Infolgedessen wäre klar gewesen, dass die Symptome ergänzend durch einen Internisten hätten abgeklärt werden müssen. Diese Untersuchung hätte einen infarktbedingten Untergang der Herzbeutelmuskulatur zu Tage gefördert und die daran anknüpfende unverzügliche kardiologische und internistische Krisenintervention hätte das Leben des Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit gerettet.

Wegen der Besonderheiten des Falles war zwar nicht von einem groben Behandlungsfehler auszugehen, dem Beklagten war jedoch ein ebenfalls zur Beweislastumkehr führender Befunderhebungsmangel anzulasten. Somit waren das Zahlungsverlangen der Klägerinnen sowie der Anspruch auf Ersatz des künftigen Unterhaltsschadens dem Grunde nach gerechtfertigt. Über die Höhe ist im weiteren Verlauf des Verfahrens vor dem LG zu befinden.

OLG Koblenz PM v. 13.4.2012
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