17.08.2012

BVerfG erlaubt Bundeswehr-Streitkräfteeinsätze im Innern

Zwar begrenzt die Verfassung einen Streitkräfteeinsatz im Inneren in bewusster Entscheidung auf äußerste Ausnahmefälle. Es ist jedoch weder durch den Wortlaut des Art. 35 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG noch die Systematik des GG zwingend vorgegeben, dass der Streitkräfteeinsatz nach diesen Bestimmungen auf diejenigen Mittel beschränkt ist, die nach dem Gefahrenabwehrrecht des Einsatzlandes der Polizei zur Verfügung stehen oder verfügbar gemacht werden dürften.

BVerfG 3.7.2012, 2 PBvU 1/11
Der Sachverhalt:
Der Zweite Senat des BVerfG hatte in dem Normenkontrollverfahren das Plenum angerufen. Der Anfrage lag ein Antrag der Bayerischen Staatsregierung und der Hessischen Landesregierung zugrunde, darüber zu entscheiden, ob § 13, § 14 Abs. 1, 2 u. 4 u. § 15 LuftSiG, die die Voraussetzungen und Modalitäten eines Einsatzes der Streitkräfte zur Abwehr besonders schwerer von Luftfahrzeugen ausgehender Unglücksfälle regeln, mit dem GG vereinbar sind.

Der Normenkontrollantrag betraf ursprünglich die §§ 13 bis 15 LuftSiG. Nachdem § 14 Abs. 3 LuftSiG, der zum Abschuss eines gegen das Leben von Menschen eingesetzten Luftfahrzeugs ermächtigte, durch Urteil des Ersten Senats vom 15.2.2006 (1 BvR 357/05) für nichtig erklärt wurde, haben die Antragstellerinnen ihren Antrag insoweit für erledigt erklärt. Damit standen in dem Ausgangsverfahren nur noch die oben genannten Normen zur Prüfung. Der Zweite Senat möchte in diesem Verfahren abweichend von den genannten Rechtsauffassungen des Ersten Senats entscheiden.

Das Plenum hat über die Vorlagefragen wie folgt entschieden:

  • Die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für die Regelungen der §§ 13 bis 15 LuftSiG ergibt sich nicht aus Art. 35 Abs. 2 u. 3 GG, sondern aus Art. 73 Nr. 6 GG a.F. (heute Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG), der dem Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für den Luftverkehr zuweist.
  • Art. 35 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG schließen die Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei Einsätzen der Streitkräfte nach diesen Vorschriften nicht grundsätzlich aus, lassen sie aber nur unter engen Voraussetzungen zu, die insbesondere sicherstellen, dass nicht die strikten Begrenzungen unterlaufen werden, die einem bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im Inneren durch Art. 87a Abs. 4 GG gesetzt sind.
  • Der Streitkräfteeinsatz in Fällen des überregionalen Katastrophennotstandes nach Art. 35 Abs. 3 S. 1 GG ist, auch in Eilfällen, nur aufgrund eines Beschlusses der Bundesregierung zulässig.

Die Gründe:

1. Gesetzgebungskompetenz des Bundes
Die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes für die §§ 13 ff. LuftSiG folgt als Annexkompetenz aus Art. 73 Nr. 6 GG a.F. (heute Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG), der dem Bund die Gesetzgebungskompetenz für den Luftverkehr zuweist. Die Bestimmungen der §§ 13 ff. LuftSiG enthalten ein eigenständiges Gefahrenabwehrrecht des Bundes. Sie regeln nicht nur die Mittelbereitstellung für den Fall der Unterstützung von Gefahrenabwehrmaßnahmen der Länder, sondern enthalten zugleich unmittelbar außenwirksame Ermächtigungen zum Streitkräfteeinsatz.

2. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines Streitkräfteeinsatzes mit spezifisch militärischen Waffen
Zwar begrenzt die Verfassung einen Streitkräfteeinsatz im Inneren in bewusster Entscheidung auf äußerste Ausnahmefälle. Es ist jedoch weder durch den Wortlaut des Art. 35 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG noch die Systematik des GG zwingend vorgegeben, dass der Streitkräfteeinsatz nach diesen Bestimmungen auf diejenigen Mittel beschränkt ist, die nach dem Gefahrenabwehrrecht des Einsatzlandes der Polizei zur Verfügung stehen oder verfügbar gemacht werden dürften. Vielmehr spricht der Regelungszweck, eine wirksame Gefahrenabwehr zu ermöglichen, für eine Auslegung, die unter den engen Voraussetzungen, unter denen ein Einsatz der Streitkräfte überhaupt in Betracht kommt, die Verwendung ihrer spezifischen Mittel nicht generell ausschließt.

Der Einsatz der Streitkräfte als solcher wie auch der Einsatz spezifisch militärischer Kampfmittel kommt allerdings nur unter engen Voraussetzungen in Betracht. Insbesondere sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 87a Abs. 4 GG zu berücksichtigen, der vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen den Einsatz der Streitkräfte zur Bewältigung innerer Auseinandersetzungen besonders strengen Beschränkungen unterwirft. Diese Beschränkungen dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass der Einsatz statt auf der Grundlage des Art. 87a Abs. 4 GG auf der des Art. 35 Abs. 2 oder 3 GG erfolgt. Der Einsatz der Streitkräfte wie der Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel ist zudem auch in einer solchen Gefahrenlage nur als ultima ratio zulässig. Eine umfassende Gefahrenabwehr für den Luftraum mittels der Streitkräfte kann auf Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nicht gestützt werden.

3. Anordnungskompetenz der Bundesregierung
Art. 35 Abs. 3 S. 1 GG ermächtigt allein die Bundesregierung als Kollegialorgan, im Fall des überregionalen Katastrophennotstandes Einheiten der Streitkräfte einzusetzen. Danach besteht auch für Eilfälle weder eine Befugnis der Bundesregierung, die ihr zugewiesene Beschlusszuständigkeit auf ein einzelnes Mitglied zur delegieren, noch eine Befugnis des Gesetzgebers zu einer abweichenden Zuständigkeitsbestimmung.

Linkhinweis:

  • Der Volltext der Entscheidung ist auf der Homepage des BVerfG veröffentlicht.
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BVerfG PM Nr. 63 vom 17.8.2012
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