28.06.2011

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung

Die im BVerfG-Urteil vom 4.5.2011 festgesetzten höheren Anforderungen an die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung gelten immer dann, wenn in das schutzwürdige Vertrauen des Betroffenen auf ein Unterbleiben seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung eingegriffen wird. Die Gerichte sind daher bis zu einer Neuregelung gehalten, über die dem Urteil zugrundeliegenden Fallgestaltungen hinaus, die Sicherungsverwahrung nur noch dann anzuordnen oder aufrechtzuerhalten, wenn die besonderen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit erfüllt sind.

BVerfG 8.6.2011, 2 BvR 2846/09
Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer war 1987 wegen versuchten Mordes zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Er war mit einem Arbeitskollegen nach gemeinsamem Alkoholgenuss in Streit geraten und hatte diesem mit einer 600 bis 800 Grad Celsius heißen Schürstange den Unterbauch durchbohrt. Er verbüßte die verhängte Strafe zu zwei Dritteln und wurde im Dezember 1994 unter Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung entlassen. Im Jahr 1997 wurde er dann wegen Totschlags seiner Ehefrau zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.

Zum Zeitpunkt der zweiten Verurteilung war eine Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtlich (noch) nicht möglich, weil diese nach der damals geltenden Rechtslage mindestens drei vorsätzliche Straftaten voraussetzte. Erst der zum 1.4..1998 eingeführte § 66 Abs. 3 StGB ließ eine Anordnung der Sicherungsverwahrung bereits nach zwei vorsätzlichen Straftaten zu. Die Möglichkeit einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung wurde 2004 eingeführt und mit der 2007 erfolgten Änderung von § 66b Abs. 1 S. 1 sowie der Einführung von § 66b Abs. 1 S. 2 StGB dahingehend erweitert, dass nunmehr die Sicherungsverwahrung auch dann nachträglich angeordnet werden durfte, wenn zum Zeitpunkt der Verurteilung wegen der Anlasstat aus Rechtsgründen keine primäre Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte. In Anwendung dieser neuen Rechtsgrundlage wurde im Jahr 2009 nachträglich die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung angeordnet.

Der BGH verwarf die Revision des Beschwerdeführers und wies dessen Anhörungsrüge als unbegründet zurück. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde war erfolgreich. Das BVerfG hob die angefochtenen Urteile auf und wies die Sache zur erneuten Entscheidung an das LG zurück.

Die Gründe:
Die auf § 66b Abs. 1 S. 1 u. 2 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung vom 13.4.2007 gestützte nachträgliche Anordnung seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung verletzte die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 und aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Die angefochtenen Urteile verletzten den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG.

Das BVerfG hatte bereits mit Urteil vom 4.5.2011 alle Vorschriften des Strafgesetzbuches und des Jugendgerichtsgesetzes über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung wegen Verstoßes gegen das Abstandsgebot für unvereinbar mit dem Freiheitsgrundrecht erklärt. Darüber hinaus hatte es für die mit den dort zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerden konkret angegriffenen Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die früher geltende Höchstfrist hinaus und zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung - zu denen § 66b Abs. 1 S. 1 u. 2 StGB nicht zählte - auch die Unvereinbarkeit mit dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebot festgestellt.

Nach Maßgabe der in diesem Urteil getroffenen Übergangsregelungen darf auf der Grundlage dieser auch wegen Verstoßes gegen das Vertrauensschutzgebot für verfassungswidrig erklärten Vorschriften die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bzw. deren Fortdauer nur noch unter Wahrung strikter Verhältnismäßigkeitsanforderungen angeordnet werden. Dies gilt etwa, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG leidet.

Außerdem konnte nun klargestellt werden, dass die im Urteil vom 4.5.2011 festgesetzten höheren Anforderungen an die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung immer dann gelten, wenn - wie im vorliegenden Fall - in das schutzwürdige Vertrauen des Betroffenen auf ein Unterbleiben seiner Unterbringung in der Sicherungsverwahrung eingegriffen wird. Die Gerichte sind daher bis zu einer Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung gehalten, über die dem Urteil vom 4.5.2011 zugrundeliegenden Fallgestaltungen hinaus auch in den anderen Konstellationen, in denen das schutzwürdige Vertrauen der Betroffenen in das Unterbleiben der Sicherungsverwahrung beeinträchtigt wird, die Sicherungsverwahrung nur noch dann anzuordnen oder aufrechtzuerhalten, wenn die besonderen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit erfüllt sind. Ob diese Voraussetzungen im Fall des Beschwerdeführers gegeben sind, muss das LG im weiteren Verfahren prüfen.

Linkhinweis:

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BVerfG PM Nr. 39 vom 28.6.2011
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