09.11.2011

Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht ist verfassungswidrig

Die bei der Europawahl 2009 geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel verstößt unter den gegenwärtigen Verhältnissen gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien, weshalb die der Sperrklausel zugrunde liegende Vorschrift des § 2 Abs. 7 EuWG für nichtig zu erklären ist. Diese Die Verfassungswidrigkeit  führt allerdings nicht dazu, die Wahl des Jahres 2009 für ungültig zu erklären und eine Neuwahl anzuordnen.

BVerfG 9.11.2011, 2 BvC 4/10 u.a.
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer wandten sich gegen die bei der Europawahl 2009 (7. Wahlperiode) geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel. Ein Beschwerdeführer rügte darüber hinaus, dass die Wahl auf der Grundlage "starrer Listen" erfolgt sei.

Die Fünf-Prozent-Klausel bewirkt, dass nur solche Parteien bei der Verteilung der Abgeordnetensitze im EU-Parlament berücksichtigt werden, die das Quorum von fünf Prozent der gültigen Stimmen erreichen. Eine Liste mit den Bewerbern einer Partei wird als "starr" bezeichnet, wenn der Wähler sich nur für die Liste als solche entscheiden kann, aber keinen Einfluss darauf hat, in welcher Reihenfolge die aufgeführten Kandidaten bei der Sitzverteilung zum Zuge kommen.

Die Verfassungsbeschwerde war hinsichtlich der der Fünf-Prozent-Sperrklausel erfolgreich. Demgegenüber hat das BVerfG die von einem Beschwerdeführer gerügte Verhältniswahl auf der Grundlage "starrer" Listen nicht beanstandet.

Die Gründe:
Die bei der Europawahl 2009 geltende Fünf-Prozent-Sperrklausel verstößt unter den gegenwärtigen Verhältnissen gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien, weshalb die der Sperrklausel zugrunde liegende Vorschrift des § 2 Abs. 7 EuWG für nichtig zu erklären ist.

Das Europawahlgesetz ist als deutsches Bundesrecht an den im GG verankerten Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien zu messen. Dieser Grundsatz verlangt, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden. Die Fünf-Prozent-Sperrklausel bewirkt allerdings eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswerts, weil diejenigen Wählerstimmen, die für Parteien abgegeben wurden, die an der Sperrklausel gescheitert sind, ohne Erfolg bleiben. Zugleich wird durch die Fünf-Prozent-Sperrklausel der Anspruch der politischen Parteien auf Chancengleichheit beeinträchtigt.

Es besteht die Gefahr, dass der deutsche Wahlgesetzgeber mit einer Mehrheit von Abgeordneten die Wahl eigener Parteien auf europäischer Ebene durch eine Sperrklausel und den hierdurch bewirkten Ausschluss kleinerer Parteien absichern könnte. Die allgemeine und abstrakte Behauptung, durch den Wegfall der Fünf-Prozent-Sperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien und Wählergemeinschaften in die Vertretungsorgane erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesen Organen erschwert, kann den Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit nicht rechtfertigen. Zur Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel bedarf es vielmehr der mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane.

Zwar war von einigen Sachkundigen und Abgeordneten des EU-Parlaments übereinstimmend die Erwartung geäußert worden, dass mit dem Einzug weiterer Kleinparteien in das Parlament die Mehrheitsgewinnung erschwert werde. Damit allein konnte jedoch noch keine hinreichend wahrscheinlich zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des EU-Parlaments dargelegt werden.

Die Verfassungswidrigkeit  der Fünf-Prozent-Sperrklausel führt allerdings nicht dazu, die Wahl zum EU-Parlament des Jahres 2009 für ungültig zu erklären und eine Neuwahl anzuordnen. Denn im Rahmen der gebotenen Abwägung war dem Bestandsschutz der im Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit des EuWG zusammengesetzten Volksvertretung Vorrang gegenüber der Durchsetzung des festgestellten Wahlfehlers einzuräumen. Eine Neuwahl in Deutschland wirkte sich störend und mit nicht abschätzbaren Folgen auf die laufende Arbeit des EU-Parlaments aus.

Die gegen die Wahl nach "starren" Listen erhobene Rüge griff dagegen nicht durch. Denn nach dem Unionsrecht bleibt es den Mitgliedstaaten vorbehalten, sich entweder für eine Wahl mit gebundenen - durch den Wähler nicht veränderbaren - Listen oder für offene - die Möglichkeit der Veränderung der Reihenfolge der Wahlbewerber auf den Wahlvorschlägen gewährende - Listen zu entscheiden.

Linkhinweis:

  • Der Volltext der Entscheidung ist auf der Homepage des BVerfG veröffentlicht.
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BVerfG PM Nr. 70 vom 9.11.2011
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