15.03.2019

Kindeswohlgefährdung: Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer gerichtlichen Maßnahme nach § 1666 BGB

Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer gerichtlichen Maßnahme nach § 1666 BGB ist auch das Verhältnis zwischen der Schwere des Eingriffs in die elterliche Sorge und dem Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für das Kind zu beachten. Die - auch teilweise - Entziehung der elterlichen Sorge ist daher nur bei einer erhöhten Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, nämlich ziemlicher Sicherheit, verhältnismäßig. Die Differenzierung der Wahrscheinlichkeitsgrade auf der Tatbestandsebene und der Rechtsfolgenseite ist geboten, um dem Staat einerseits ein - ggff. nur niederschwelliges - Eingreifen zu ermöglichen, andererseits aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eine Korrekturmöglichkeit zur Verhinderung übermäßiger Eingriffe zur Verfügung zu stellen.

BGH v. 6.2.2019 - XII ZB 408/18
Der Sachverhalt:

Die Beteiligte zu 2) (Mutter) ist Inhaberin des alleinigen Sorgerechts für ihre im September 2007 geborene Tochter S. Sie hat ein weiteres Kind aus einer anderen Beziehung, den im Januar 2002 geborenen K. Im Mai 2016 zog die Mutter mit ihrer Tochter bei ihrem Lebensgefährten G ein, mit dem sie seit Februar 2016 eine Beziehung unterhält. G unterrichtete sie davon, dass er u.a. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt worden war. Im Zeitraum zwischen Mai 2009 und April 2013 war dieser unter verschiedenen Aliasnamen in einem Internetforum angemeldet und hatte dort Kontakt zu Mädchen im Alter zwischen zehn und 13 Jahren gesucht. Er hatte sie veranlasst, sich bei Skype mit ihm auszutauschen, sich zu entblößen und ihm Bilder ihres Intimbereichs zu übersenden. Die Bildsequenzen hatte er aufgenommen und sie in seinem Computer gespeichert. Eine Geschädigte hatte er unter Druck gesetzt, nachdem diese freiwillig nicht bereit gewesen war, Aufnahmen von sich zu fertigen, indem er ihr mitgeteilt hatte, er werde Aufnahmen der Geschädigten aus anderer Quelle an Freunde oder die Eltern der Geschädigten weiterleiten oder sie veröffentlichen. In zwei Fällen hatte sich die Geschädigte darauf eingelassen.

 

Eine Begutachtung durch den Sachverständigen D hatte ergeben, dass der Lebensgefährte an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung litt und bei ihm eine pädo-/hebephile Nebenströmung festzustellen war, ohne dass damit ein Ausschluss oder eine Einschränkung der Schuldfähigkeit verbunden gewesen sei. Wegen dieser Taten wurde der Lebensgefährte im Oktober 2015 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren rechtskräftig verurteilt; ihre Vollstreckung wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Dem Lebensgefährten wurde jede Kontaktaufnahme zu Kindern und Jugendlichen über Internet-Plattformen untersagt.

 

Nachdem das Familiengericht von dem Zusammenleben der Mutter mit ihrer Tochter und dem Lebensgefährten Anfang Januar 2018 unterrichtet worden war, fand am 23.1.2018 ein Gespräch statt, an dem das Jugendamt, die Mutter und ihr Lebensgefährte teilnahmen. Letzterer erklärte sich im Rahmen einer Schutzvereinbarung bereit, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen. Am 24.1.2018 nahm das Jugendamt S gleichwohl in Obhut. Seither befindet sie sich in einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe.

 

Das AG entschied nach Einholung zweier schriftlicher Gutachten der Sachverständigen D und Sch und Anhörung der Beteiligten sowie ergänzender Befragung der Sachverständigen Sch, dass sorgerechtliche Maßnahmen nicht zu ergreifen seien. Ferner ordnete es die Herausgabe von S an die Mutter an. Auf die hiergegen vom Jugendamt eingelegte Beschwerde entzog das OLG der Mutter das Recht zur Aufenthaltsbestimmung und das Recht zur Antragstellung nach SGB VIII. für S. Im Umfang der Entziehung des Sorgerechts ordnete das OLG Ergänzungspflegschaft an und bestellte das Jugendamt zum Pfleger. Auf die Rechtsbeschwerde der Mutter hob der BGH den Beschluss des OLG auf und verwies die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung dorthin zurück.

 

Die Gründe:

Gem. § 1666 Abs. 1 BGB hat das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu treffen, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet ist und die Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Norm ist der besondere Schutz zu beachten, unter dem die Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG steht. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert den Eltern das Recht auf Pflege und Erziehung. Die Erziehung des Kindes ist damit primär in ihre Verantwortung gelegt. Die Eltern können grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten und damit ihrer Elternverantwortung gerecht werden wollen. In der Beziehung zum Kind muss aber das Kindeswohl die oberste Richtschnur der elterlichen Pflege und Erziehung sein. Dem trägt die angefochtene Entscheidung nicht hinreichend Rechnung.

 

Allerdings ist im Ergebnis nichts dagegen zu erinnern, dass das OLG eine Kindeswohlgefährdung bejaht und damit ein Eingreifen des Staates für zulässig erachtet hat. Eine Kindeswohlgefährdung i.S.d. § 1666 Abs. 1 BGB liegt vor, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt. Die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit muss aber in jedem Fall auf konkreten Verdachtsmomenten beruhen. Eine nur abstrakte Gefährdung genügt nicht.

 

Jedoch ist die vom OLG angeordnete Maßnahme, der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu entziehen mit der Folge, dass das Kind von ihr getrennt wird bzw. bleibt, unverhältnismäßig. Jeder Eingriff in das Elternrecht muss dem - für den Fall der Trennung des Kindes von der elterlichen Familie in § 1666 a BGB ausdrücklich geregelten - Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Er gebietet, dass Art und Ausmaß des staatlichen Eingriffs sich nach dem Grund des Versagens der Eltern und danach bestimmen müssen, was im Interesse des Kindes geboten ist. Die anzuordnende Maßnahme muss zur Abwehr der Kindeswohlgefährdung geeignet, erforderlich und auch im engeren Sinne verhältnismäßig sein. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist gegeben, wenn der Eingriff unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zumutbar ist. Hierbei ist insbesondere auch das Verhältnis zwischen der Schwere des Eingriffs und seiner Folgen, dem Gewicht des dem Kind drohenden Schadens und dem Grad der Gefahr zu berücksichtigen. Die - auch teilweise - Entziehung der elterlichen Sorge als besonders schwerer Eingriff kann daher nur bei einer nachhaltigen Gefährdung des Kindes mit einer höheren - einer ebenfalls im Einzelfall durch Abwägung aller Umstände zu bestimmenden ziemlichen - Sicherheit eines Schadenseintritts verhältnismäßig sein.

 

Entgegen der Auffassung des OLG hat der Senat die Frage, ob die Begriffe der "hinreichenden Wahrscheinlichkeit" und der "ziemlichen Sicherheit" des Schadenseintritts deckungsgleich sind, nicht offen gelassen. Vielmehr hat er darauf hingewiesen, dass hinsichtlich des Grades der Wahrscheinlichkeit einer Kindeswohlgefährdung zwischen der Tatbestandsebene, die Voraussetzung für ein staatliches Handeln - egal welcher Intensität - ist, und der Rechtsfolgenseite, die sich am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu orientieren hat, zu unterscheiden ist. Für eine (teilweise) Entziehung des Sorgerechts bedarf es danach einer ziemlichen Sicherheit des Schadenseintritts. Die Differenzierung der Wahrscheinlichkeitsgrade auf der Tatbestandsebene und der Rechtsfolgenseite ist geboten, um dem Staat einerseits ein - ggf. nur niederschwelliges - Eingreifen zu ermöglichen, andererseits aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eine Korrekturmöglichkeit zur Verfügung zu stellen, mittels derer ein übermäßiges Verhalten des Staates vermieden werden kann, und zwar letztlich auch zum Wohle des Kindes. Gemessen hieran ist die vom OLG angeordnete Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts unverhältnismäßig.

 

Der angefochtene Beschluss war nach alldem aufzuheben und die Sache an das OLG zurückzuverweisen. Dieses wird nunmehr weitere Feststellungen im Rahmen des § 1666 BGB zu treffen haben. Die Zurückverweisung gibt dem OLG Gelegenheit, unter Beachtung der vorstehenden Erwägungen des Senats zu prüfen, ob anstelle der nach derzeitiger Sachlage unzulässigen Fremdunterbringung andere Maßnahmen in Betracht kommen, um der Gefährdung des Kindeswohls zu begegnen.

 

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