29.07.2011

Regelung zum studiendauerabhängigen Teilerlass der BAföG-Rückzahlung ist teilweise verfassungswidrig

Zwar steht dem Gesetzgeber bei der Gewährung von Leistungen ein Spielraum zu und er durfte insbesondere zur Bewältigung der deutschen Einheit auch mit Härten verbundene Regelungen treffen. Allerdings rechtfertigte dies nicht, den Studierenden der Humanmedizin in den neuen Ländern die Begünstigung eines großen Teilerlasses von vornherein zu versagen, während sie Medizinstudenten in den alten Ländern nach der Wiedervereinigung noch übergangsweise offen stand.

BVerfG 21.6.2011, 1 BvR 2035/07
Der Sachverhalt:
Während die Förderungshöchstdauer nach dem BAföG im Studiengang Humanmedizin seit 1986 dreizehn Semester betragen hatte, wurde sie für alle Studiengänge in den neuen Bundesländern bereits seit der Wiedervereinigung nach der Regelstudienzeit bemessen. Dadurch war es den Studierenden von vornherein unmöglich, einen großen Teilerlass (dabei werden 5.000 DM des Darlehens erlassen, wenn das Studium vier Monate vor Ablauf der Förderungshöchstdauer erfolgreich beendet wird) gem. § 18b Abs. 3 BAföG vom 22.5.1990 zu erreichen, da sie eine Mindeststudienzeit von zwölf Semestern zu absolvieren hatten und deshalb ihr Studium nicht vier Monate vor Ende der Förderungshöchstdauer von sechs Jahren und drei Monaten abschließen konnten.

Der Beschwerdeführer hatte im Wintersemester 1991/92 in den neuen Bundesländern sein Medizinstudium begonnen, das er im ersten Monat nach dem Ende des 12. Semesters erfolgreich abschloss. Während des Studiums erhielt er eine BAföG-Förderung. Das Bundesverwaltungsamt legte unter Zugrundelegung der Förderungshöchstdauer von sechs Jahren und drei Monaten das Förderungsende auf Dezember 1997 fest und gewährte dem Beschwerdeführer lediglich einen kleinen Teilerlass, da er das Studium nur zwei Monate vor dem Ende der Förderungshöchstdauer abgeschlossen habe.

Die hiergegen gerichteten Klagen blieben vor den Verwaltungsgerichten ohne Erfolg. Die Verfassungsbeschwerde war hingegen erfolgreich. Das BVerfG untersagte den Gerichten und Verwaltungsbehörden den § 18b Abs. 3 S. 1 BAföG sowohl in der hier maßgeblichen Fassung als auch in den nachfolgenden Fassungen anzuwenden. Dem Gesetzgeber gaben die Richter auf, bis zum 31.12.2011 für alle betroffenen Studierenden, deren Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren über die Gewährung eines großen Teilerlasses noch nicht bestands- oder rechtskräftig abgeschlossen sind, eine gleichheitsgerechte Neuregelung zu treffen.

Die Gründe:
Der Beschwerdeführer wird durch § 18b Abs. 3 S. 1 BAföG i.V.m. den einschlägigen Vorschriften zur Förderungshöchstdauer einerseits und zur Mindeststudienzeit andererseits sowie durch die daraus folgende Versagung eines großen Teilerlasses in seinem Grundrecht auf Gleichbehandlung verletzt, weil es ihm als Studierendem der Humanmedizin in den neuen Ländern von vornherein objektiv unmöglich war, in den Genuss eines großen Teilerlasses zu kommen.

Zwar steht dem Gesetzgeber bei der Gewährung von Leistungen ein Spielraum zu. Er durfte insbesondere zur Bewältigung der deutschen Einheit auch mit Härten verbundene Regelungen treffen. Allerdings rechtfertigte dies nicht, den Studierenden der Humanmedizin in den neuen Ländern die Begünstigung eines großen Teilerlasses von vornherein zu versagen, während sie Medizinstudenten in den alten Ländern nach der Wiedervereinigung noch übergangsweise offen stand. Auch die Befugnis des Gesetzgebers, bei der Ordnung von Massenerscheinungen typisierende und pauschalierende Regelungen zu treffen, vermochte die Ungleichbehandlungen nicht zu rechtfertigen.

Der Ausschluss wäre ohne unzumutbaren Aufwand vermeidbar gewesen, da die Regeln über Teilerlass, Förderungshöchstdauer und Mindeststudienzeit hätten aufeinander abgestimmt werden können. Er war deshalb nicht aus verwaltungspraktischen oder sonstigen Gründen sachlich geboten, sondern hatte seine Ursache allein in einem strukturellen Fehler der Gesetzeskonzeption.

Die Benachteiligung gegenüber Studierenden anderer Studiengänge war auch nicht durch andere Sachgründe gerechtfertigt. Dass sich der Studiengang Humanmedizin durch die höchste Förderungshöchstdauer von allen universitären Studiengängen auszeichnet, ist dem Umfang des Studiums und der gesetzlich bestimmten und auch europarechtlich vorgegebenen Mindeststudienzeit geschuldet. Ein tragfähiger Sachgrund, Studierenden einen großen Teilerlass deshalb zu versagen, weil sie sich für ein umfangreiches Studium entschieden haben, existiert nicht. Vielmehr besteht aus Sicht der Geförderten bei langer Studien- und Förderungsdauer sogar ein größeres Bedürfnis für einen großen Teilerlass, da die zurückzuzahlende Darlehenssumme in der Regel höher ausfällt als bei kürzeren Studiengängen.

Hintergrund:
Die Verkürzung der Förderungshöchstdauer galt ebenso für Studierende der Humanmedizin, die ab dem Sommersemester 1993 ihr Studium in den alten Ländern aufgenommen hatten. Wer allerdings - wie bei einem Studienbeginn im Wintersemester 1992/93 oder früher - sein viertes Fachsemester am 1.10.1994 in den alten Ländern vollendet hatte, konnte den großen Teilerlass erreichen, weil für ihn nach einer Übergangsregelung noch die alte Förderungshöchstdauer von dreizehn Semestern galt.

Linkhinweis:

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BVerfG PM Nr. 48 vom 29.7.2011
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