05.05.2011

Regelungen zur Sicherungsverwahrung verfassungswidrig

Alle Vorschriften des StGB und des JGG über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung sowie die Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahreshöchstfrist hinaus und zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung im Erwachsenen- und Jugendstrafrecht sind verfassungswidrig. Bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum 31.5.2013, hat das BVerfG die weitere Anwendbarkeit der für verfassungswidrig erklärten Vorschriften angeordnet, und teilweise Übergangsregelungen getroffen.

BVerfG 4.5.2011, 2 BvR 2365/09 u.a.
Hintergrund:
Mit dem 1998 in Kraft getretenen Art. 1 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten wurde die bis dahin im StGB für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bestimmte Höchstfrist von zehn Jahren aufgehoben und eine Pflicht zur Überprüfung nach zehnjähriger Vollzugsdauer eingeführt. Gem. § 67d Abs. 3 StGB erklärt das Vollstreckungsgericht nach Ablauf von 10 Jahren die Maßregel für erledigt, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Die Neuregelung ist gem. § 2 Abs. 6 StGB auf alle zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bereits angeordneten und noch nicht erledigten Fälle anzuwenden. Der Wegfall der Befristung betrifft damit auch die Sicherungsverwahrten, bei denen zum Zeitpunkt der Anlasstat und ihrer Verurteilung noch die Befristung der Sicherungsverwahrung auf höchstens zehn Jahre galt.

Der EGMR hat in einer Entscheidung vom 17.12.2009 (19359/04), rechtskräftig seit dem 10.5.2010, der Individualbeschwerde eines Sicherungsverwahrten stattgegeben, der ebenfalls aus Anlass seiner vor Inkrafttreten der Neuregelung begangenen Straftaten seit über zehn Jahren in der Sicherungsverwahrung untergebracht war. Die Fortdauer der Sicherungsverwahrung - so der EGMR - verstoße sowohl gegen das Recht auf Freiheit aus Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) als auch gegen das in Art. 7 EMRK normierte Rückwirkungsverbot. Denn die Verlängerung der Sicherungsverwahrung stelle eine zusätzliche Strafe dar, die nachträglich aufgrund eines erst nach der Tat in Kraft getretenen Gesetzes verhängt worden sei.

Der Sachverhalt:
Das Verfahren betrifft zum einen die Verfassungsbeschwerden von zwei Sicherungsverwahrten (Verurteilungen u.a. wegen Sexualdelikten), die sich gegen die Fortdauer ihrer Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach Ablauf der nach früherem Recht für die Sicherungsverwahrung geltenden Höchstfrist von zehn Jahren wenden. Ebenfalls zu entscheiden war über die Verfassungsbeschwerden zweier weiterer in der Sicherungsverwahrung Untergebrachter (Verurteilungen u.a. wegen Mord und Sexualdelikten), die sich gegen die nachträgliche Anordnung ihrer Sicherungsverwahrung bzw. - in einem Fall - auch gegen die einstweilige Unterbringung in der Sicherungsverwahrung richten.

Die Beschwerdeführer blieben mit ihren Rechtsmitteln gegen die Anordnung/Fortdauer der Sicherungsverwahrung vor den Fachgerichten erfolglos. Sie rügen mit ihren Verfassungsbeschwerden im Wesentlichen eine Verletzung des Verbots der rückwirkenden Bestrafung aus Art. 103 Abs. 2 GG, des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzgebotes (Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG) sowie ihres Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2, Art. 104 GG. In diesem Zusammenhang berufen sie sich auf die Entscheidung des EGMR.

Das BVerfG hob die mit den Verfassungsbeschwerden angefochtenen Entscheidungen auf, weil sie die Beschwerdeführer in ihrem Freiheitsgrundrecht und ihren verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzbelangen verletzen, und verwies die Sachen an die Fachgerichte zur erneuten Entscheidung zurück.

Die Gründe:
Alle Vorschriften des StGB und des JGG über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung sind mit dem Freiheitsgrundrecht der Untergebrachten aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG nicht vereinbar, weil sie den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Abstandsgebots nicht genügen. Überdies verletzen die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahreshöchstfrist hinaus und zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung im Erwachsenen- und Jugendstrafrecht das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG. Bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum 31.5.2013, hat das BVerfG die weitere Anwendbarkeit der für verfassungswidrig erklärten Vorschriften angeordnet, und im Wesentlichen folgende Übergangsregelungen getroffen:

  • 1. In den sog. Altfällen, in denen die Unterbringung der Sicherungsverwahrten über die frühere Zehnjahresfrist hinaus fortdauert, sowie in den Fällen der nachträglichen Sicherungsverwahrung darf die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bzw. deren Fortdauer nur noch angeordnet werden, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und dieser an einer psychischen Störung i.S.v. § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) leidet. Die Vollstreckungsgerichte haben unverzüglich das Vorliegen dieser Voraussetzungen der Fortdauer der Sicherungsverwahrung zu prüfen und anderenfalls die Freilassung der betroffenen Sicherungsverwahrten spätestens zum 31.12.2011 anzuordnen.
  • 2. Die übrigen Vorschriften über die Anordnung und Dauer der Sicherungsverwahrung dürfen während der Übergangszeit nur nach Maßgabe einer strikten Prüfung der Verhältnismäßigkeit angewandt werden, die in der Regel nur gewahrt ist, wenn die Gefahr künftiger schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten des Betroffenen besteht.

Verletzung des Freiheitsgrundrechts - Abstandsgebot
Der in der Sicherungsverwahrung liegende schwerwiegende Eingriff in das Freiheitsgrundrecht ist nur nach Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung und unter Wahrung strenger Anforderungen an die zugrunde liegenden Entscheidungen und die Ausgestaltung des Vollzugs zu rechtfertigen. Die vorhandenen Regelungen über die Sicherungsverwahrung erfüllen nicht die verfassungsrechtlichen (Mindest-)Anforderungen an die Ausgestaltung des Vollzugs.

Die grundlegend unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Legitimationsgrundlagen und Zwecksetzungen von Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung erfordern einen deutlichen Abstand des Freiheitsentzugs durch Sicherungsverwahrung zum Strafvollzug (sog. Abstandsgebot). Während die Freiheitsstrafe der Vergeltung schuldhaft begangener Straftaten dient, verfolgt der Freiheitsentzug des Sicherungsverwahrten allein präventive Zwecke. Die Sicherungsverwahrung ist daher nur dann zu rechtfertigen, wenn der Gesetzgeber bei ihrer Ausgestaltung dem besonderen Charakter des in ihr liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung und dafür Sorge trägt, dass über den unabdingbaren Entzug der "äußeren" Freiheit hinaus weitere Belastungen vermieden werden.

Dem Gesetzgeber ist nun aufgegeben, ein entsprechendes Gesamtkonzept der Sicherungsverwahrung zu entwickeln und normativ festzuschreiben. Dieses muss zumindest folgende Aspekte umfassen:

  • Die Sicherungsverwahrung darf nur als letztes Mittel angeordnet und vollzogen werden.
  • Etwa erforderliche therapeutische Behandlungen müssen schon während des vorangehenden Strafvollzugs so zeitig beginnen und intensiv durchgeführt werden, dass sie möglichst schon vor dem Strafende abgeschlossen werden.
  • Spätestens zu Beginn des Vollzugs der Sicherungsverwahrung hat eine umfassende, modernen wissenschaftlichen Anforderungen entsprechende Behandlungsuntersuchung stattzufinden,
  • auf deren Grundlage ein Vollzugsplan zu erstellen und eine intensive therapeutische Betreuung des Sicherungsverwahrten durch qualifizierte Fachkräfte stattzufinden hat, die eine realistische Entlassungsperspektive eröffnet.
  • Hierzu ist die Mitwirkung des Betroffenen durch gezielte Motivationsarbeit zu fördern.
  • Das Leben in der Sicherungsverwahrung ist, um ihrem spezialpräventiven Charakter Rechnung zu tragen, den allgemeinen Lebensverhältnissen anzupassen, soweit Sicherheitsbelange nicht entgegenstehen.
  • Ferner muss das gesetzliche Konzept der Sicherungsverwahrung Vorgaben zu Vollzugslockerungen und zur Entlassungsvorbereitung enthalten.
  • Dem Untergebrachten muss zudem ein effektiv durchsetzbarer Rechtsanspruch auf Durchführung der seine Gefährlichkeit reduzierenden Maßnahmen eingeräumt werden.
  • Schließlich ist die Fortdauer der Sicherungsverwahrung in mindestens jährlichen Abständen gerichtlich zu prüfen.

Verletzung des Vertrauensschutzgebotes
Zudem verletzten die mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen Vorschriften zur nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die frühere Zehnjahreshöchstfrist hinaus und zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung das rechtsstaatliche Vertrauensschutzgebot aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG.

Die Vorschriften enthalten einen schwerwiegenden Eingriff in das Vertrauen des betroffenen Personenkreises auf ein Ende der Sicherungsverwahrung nach Ablauf von zehn Jahren (in den sog. Altfällen) bzw. auf ein Unterbleiben der Anordnung der Sicherungsverwahrung (in den Fällen ihrer nachträglichen Anordnung). Danach kommt - unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR - eine Rechtfertigung der Freiheitsentziehung in den hier in Rede stehenden Fällen der nachträglich verlängerten bzw. angeordneten Sicherungsverwahrung praktisch nur unter den Voraussetzungen einer psychischen Störung i.S.v. Art. 5 Abs. 1 S. 2 Buchst. e EMRK in Betracht. Die Rechtfertigung der Freiheitsentziehung setzt zudem eine Ausgestaltung der Unterbringung des Betroffenen voraus, die der Tatsache Rechnung trägt, dass er aufgrund einer psychischen Störung untergebracht ist.

Übergangsregelung
Zur Vermeidung eines "rechtlichen Vakuums" hat das BVerfG die verfassungswidrigen Vorschriften nicht für nichtig erklärt, sondern deren zeitlich befristete Weitergeltung angeordnet. Denn die Nichtigerklärung der einschlägigen Normen hätte zur Folge, dass es für die weitere Sicherungsverwahrung an einer Rechtsgrundlage fehlte und alle in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Personen sofort freigelassen werden müssten, was Gerichte, Verwaltung und Polizei vor kaum lösbare Probleme stellen würde.

Die Weitergeltungsanordnung muss im Hinblick auf den Umfang des vom Gesetzgeber zu erarbeitenden Gesamtkonzepts der Sicherungsverwahrung, die notwendige Schaffung zusätzlicher Personalkapazitäten sowie die Durchführung der für eine räumliche Trennung von Maßregel- und Strafvollzug erforderlichen Maßnahmen zwei Jahre betragen. Angesichts des mit der Sicherungsverwahrung verbundenen Grundrechtseingriffs ist es jedoch geboten, eine Übergangsregelung zu treffen, die die Wahrung verfassungsrechtlicher Mindestanforderungen sicherstellt. Im Hinblick auf die Vorschriften, die mit dem Vertrauensschutzgebot unvereinbar sind, ist dabei auf das am 1.1.2011 in Kraft getretene ThUG zurückzugreifen.

Linkhinweis:

  • Der Volltext ist auf der Homepage des BVerfG veröffentlicht.
  • Um direkt zum Volltext der Entscheidung zu kommen, klicken Sie bitte hier.
  • Für die umfangreiche Pressemitteilung des BVerfG klicken Sie bitte hier.
  • Für die Pressemitteilung 117 aus 2010, die ausführlich über den Sachverhalt informiert, klicken Sie bitte hier.
BVerfG PM Nr. 31 vom 4.5.2011
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