03.08.2017

Teleologische Erweiterung von Art. 5 S. 2 ZwErbGleichG

Die vom BVerfG in der Entscheidung vom 18.3.2013 ausdrücklich offen gelassene Frage, ob eine teleologische Erweiterung von Art. 5 ZwErbGleichG in bestimmten Fällen, die in tatsächlicher Hinsicht mit dem durch den EGMR in der Rechtssache Brauer gegen Deutschland entschiedenen Fall vergleichbar sind, in Betracht kommt (BVerfG ZEV 2013, 326 Rn. 43), ist zu bejahen. Die teleologische Erweiterung von Art. 5 S. 2 ZwErbGleichG liegt in den genannten Fällen im Rahmen geltender methodischer Standards.

BGH 12.7.2017, IV ZB 6/15
Der Sachverhalt:
Die 1928 nichtehelich geborene Antragstellerin ist das einzige Kind des Erblassers, der sein Leben lang ledig war. Sie hatte vor Ende des Zweiten Weltkrieges das letzte Mal im Alter von etwa vierzehneinhalb Jahren Kontakt zum Erblasser. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Antragstellerin in einem Ministerium der ehemaligen DDR tätig. Aus diesem Grund war ihr die Kontaktaufnahme zu dem auf dem Gebiet der Bundesrepublik lebenden Erblasser untersagt. Nach dem Fall der Berliner Mauer trafen sie sich wieder. Mit Schreiben vom 14.3.1992 er-klärte der Erblasser "eidesstattlich", dass die Antragstellerin seine leibliche Tochter sei. Der Kontakt wurde sehr eng. Als der Erblasser am 13.6.1993 verstarb kümmerte sich die Antragstellerin um das Begräbnis.

Kurz darauf wurde die Antragstellerin als dessen einzige bekannte Angehörige vom Nachlassgericht benachrichtigt und um Mitteilung von Informationen zu dem Erbfall gebeten. Da sich keine weiteren als Erben in Betracht kommenden Personen bei dem Nachlassgericht meldeten, setzte dieses einen Nachlasspfleger ein, dessen Aufgabe u.a. war, Erben zu ermitteln. Sein Versuch der Erbenermittlung blieb zunächst erfolglos. Im April 1996 stellte das Nachlassgericht fest, dass ein anderer Erbe als das Land Berlin nicht vorhanden sei. Nach dem Erlass des EGMR-Urteils vom 28.5.2009 zur Konventionswidrigkeit der erbrechtlichen Ungleichbehandlung von ehelichen und nichtehelichen Kindern beantragte die Antragstellerin unter Bezugnahme auf diese Entscheidung im September 2009 die Erteilung eines sie als Alleinerbin ausweisenden Erbscheins. Der Antrag hatte keinen Erfolg.

Im Dezember 2009 bzw. August 2012 beantragten ein Neffe des Erblassers, eine Großnichte, eine Nichte und ein weiterer Neffe des Erblassers die Erteilung von Erbscheinen. Sie waren durch einen Erbenermittler ausfindig gemacht worden. Das Nachlassgericht erteilte daraufhin gemeinschaftliche Teilerbscheine. Nachdem in einem von der Antragstellerin eingeleiteten gesonderten Verfahren vom KG im Juni 2014 festgestellt worden war, dass der Erblasser ihr Vater ist, beantragte sie im August 2014 erneut und unter Hinweis auf das Urteil des EGMR, ihr einen Alleinerbschein zu erteilen und die den übrigen Beteiligten erteilten Teilerbscheine einzuziehen. AG und KG haben den Antrag zurückgewiesen. Auf die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin hat der BGH den Beschluss des KG aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Gründe:
Die Antragstellerin ist als Tochter des Erblassers gem. § 1924 Abs. 1 BGB dessen Erbin erster Ordnung. Dies folgt aus einer über den Wortlaut von Art. 5 S. 2 ZwErbGleichG hinausgehenden, konventionsrechtlich gebotenen teleologischen Erweiterung der genannten Bestimmung. Danach ist Art. 5 S. 2 ZwErbGleichG im Streitfall teleologisch dahin zu erweitern, dass die Ersetzung von Art. 12 § 10 Abs. 2 S. 1 NEhelG a.F. gem. Art. 1 Nr. 2 ZwErbGleichG bereits für den in Rede stehenden Erbfall Geltung beansprucht und § 1589 Abs. 2 BGB a.F. damit nicht mehr anzuwenden ist.

Die EMRK und ihre Zusatzprotokolle stehen innerhalb der deutschen Rechtsordnung zwar nur im Rang eines Bundesgesetzes. Deutsche Gerichte trifft jedoch die Verpflichtung, die Gewährleistungen der Konvention zu berücksichtigen und in den betroffenen Teilbereich der nationalen Rechtsordnung einzupassen. Die Möglichkeit einer konventionsfreundlichen Auslegung endet jedoch dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint, etwa wenn die Beachtung der Entscheidung des Gerichtshofs gegen eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht verstößt.

Die vom BVerfG in der Entscheidung vom 18.3.2013 ausdrücklich offen gelassene Frage, ob eine teleologische Erweiterung von Art. 5 ZwErbGleichG in bestimmten Fällen, die in tatsächlicher Hinsicht mit dem durch den EGMR in der Rechtssache Brauer gegen Deutschland entschiedenen Fall vergleichbar sind, in Betracht kommt (BVerfG ZEV 2013, 326 Rn. 43), ist zu bejahen. Die teleologische Erweiterung von Art. 5 S. 2 ZwErbGleichG liegt in den genannten Fällen im Rahmen geltender methodischer Standards. Der Streitfall ist in tatsächlicher Hinsicht mit der Rechtssache Brauer gegen Deutschland vergleichbar. Er weist alle Besonderheiten auf, die diese Rechtssache aus Sicht des Gesetzgebers zu einem "atypischen" Fall gemacht haben. Die teleologische Erweiterung des Art. 5 S. 2 ZwErbGleichG verletzt schließlich auch nicht die sich aus den Grundrechten der Nichten und Neffen ergebenden verfassungsrechtlichen Grenzen der konventionskonformen Auslegung und Anwendung von Gesetzesrecht.

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