10.09.2013

Weite Beweislastumkehr bei unterlassener oder unzureichender Befunderhebung

Nach BGH-Rechtsprechung erfolgt bei der Unterlassung der gebotenen Befunderhebung eine Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität, wenn bereits die Unterlassung einen groben ärztlichen Fehler darstellt. Bei Befunderhebungsfehlern sind den Primärschäden alle allgemeinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des jeweiligen Patienten unter Einschluss der sich daraus ergebenden Risiken, die sich aus der unterlassenen oder unzureichenden Befunderhebung ergeben können, zuzuordnen.

BGH 2.7.2013, VI ZR 554/12
Der Sachverhalt:
Die Klägerinnen sind die Töchter der am 17.10.2003 verstorbenen K. Sie nahmen eine behandelnde Ärztin und einen Krankenhausträger wegen behaupteter Befunderhebungs-, Diagnose- und Dokumentationsfehler auf Zahlung von Schmerzensgeld und materiellem Schadensersatz in Anspruch. Die K. litt seit Jahren an Migräne. Wegen bereits seit Tagen andauernder Kopfschmerzen suchte sie am 3.2.2002 den ärztlichen Notdienst auf. Der Notarzt ordnete die Einweisung ins Krankenhaus an.

Der erhobene neurologische Untersuchungsbefund war unauffällig. Es wurde dokumentiert, dass keine Hinweise auf eine fokale zerebrale Störungssymptomatik bestünden, insbesondere keine Hinweise auf eine epileptische Aktivität. Angaben zur Art und Ausprägung der Kopfschmerzen wurden nicht festgehalten. Die behandelnde Ärztin verabreichte Aspisol (ein Aspirinmittel) und MCP (gegen die Übelkeit). Eine Dokumentation der Verlaufskontrolle betreffend die Wirkung der verabreichten Medikamente erfolgte nicht. Am nächsten Tag verschlechterte sich das Krankheitsbild der K. mit dem Auftreten einer symptomatischen Epilepsie. Es wurde eine Hirnvenenthrombose diagnostiziert. Die K. erlitt eine schwere hirndiffuse Schädigung und verstarb aufgrund der mit der Hirnvenenthrombose auftretenden Komplikationen.

Die Klägerinnen waren der Ansicht, bei der dokumentierten Symptomatik seien bereits bei Einweisung weitere diagnostische Maßnahmen erforderlich gewesen, so dass die Hirnvenenthrombose bereits rund 20 Stunden früher hätte diagnostiziert und eine gezielte Therapie - etwa mit Heparin - hätte eingeleitet werden können. In diesem Fall wären die schwerwiegenden Folgen bei der Erblasserin nicht eingetreten.

LG und OLG wiesen die Klage ab. Auf die Revision der Klägerinnen hob der BGH das Berufungsurteil auf und wies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Gründe:
Die Verneinung des Kausalzusammenhangs erwies sich auf der Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen als rechts-fehlerhaft.

Nach BGH-Rechtsprechung erfolgt bei der Unterlassung der gebotenen Befunderhebung eine Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität, wenn bereits die Unterlassung einen groben ärztlichen Fehler darstellt. Zudem kann auch eine nicht grob fehlerhafte Unterlassung der Befunderhebung dann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden führen, wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde und diese Fehler generell geeignet sind, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen. Wahrscheinlich braucht der Eintritt eines solchen Erfolgs nicht zu sein. Eine Umkehr der Beweislast ist nur ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist.

Nach diesen Grundsätzen kam eine Beweislastumkehr zugunsten der Klägerinnen in Betracht. Denn für die rechtliche Prüfung war entsprechend den im Berufungsurteil festgestellten und unterstellten tatsächlichen Umständen davon auszugehen, dass bei einer Verlaufskontrolle der verordneten Medikation deren Wirkungslosigkeit festgestellt worden wäre, die sodann gebotene weitere Befunderhebung zur Feststellung der Hirnvenenthrombose am 3.2.2002 - statt am 4.2.2002 - geführt hätte und die Ärzte darauf sogleich mit der Gabe von Heparin hätten reagieren müssen.

Allerdings finden die Grundsätze über die Beweislastumkehr für den Kausalitätsbeweis bei groben Behandlungsfehlern grundsätzlich nur Anwendung, soweit durch den Fehler des Arztes unmittelbar verursachte haftungsbegründende Gesundheitsverletzungen (Primärschäden) in Frage stehen. Für den Kausalitätsnachweis für Folgeschäden (Sekundärschäden), die erst durch die infolge des Behandlungsfehlers eingetretene Gesundheitsverletzung entstanden sein sollen, gelten sie nur dann, wenn der Sekundärschaden eine typische Folge des Primärschadens ist. Hinsichtlich der Haftung für Schäden, die durch eine (einfach oder grob fehlerhaft) unterlassene oder verzögerte Befunderhebung entstanden sein könnten, gilt nichts anderes. Infolgedessen muss das OLG im weiteren Verfahren prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Beweislastumkehr aufgrund der getroffenen oder zusätzlich, evtl. aufgrund weiterer Beweiserhebung, zu treffender Feststellungen zu bejahen sind.

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