25.10.2013

Zum Anspruch der Familienangehörigen des Opfers eines Verkehrsunfalls auf Ersatz des erlittenen immateriellen Schadens

Sieht das nationale Recht einen Anspruch der Familienangehörigen des Opfers eines Verkehrsunfalls auf Ersatz des erlittenen immateriellen Schadens vor, muss die obligatorische Kfz-Haftpflichtversicherung diesen Schaden decken. In einem solchen Fall erstreckt sich die im Unionsrecht für Personenschäden vorgesehene Mindestdeckung auch auf den immateriellen Schaden.

EuGH 24.10.2013, C-22/12 u.a.
Hintergrund:
Nach der Ersten Richtlinie der Union im Bereich der obligatorischen Kfz-Haftpflichtversicherung müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Zwar steht es den Mitgliedstaaten frei, die von dieser Versicherung gedeckten Schäden sowie die Modalitäten der Versicherung zu bestimmen, doch sieht die in diesem Bereich erlassene Zweite Richtlinie vor, dass die Versicherung Personenschäden i.H.v. mindestens 1 Mio. € je Unfallopfer oder 5 Mio. € je Schadensfall (dann ungeachtet der Zahl der Geschädigten) decken muss. Für Sachschäden beträgt die Mindestdeckung, ungeachtet der Zahl der Geschädigten, 1 Mio. € je Schadensfall.

Der Sachverhalt:

+++ C-22/12 +++
Herr Haas kam am 7.8.2008 in Tschechien bei einem Verkehrsunfall ums Leben, der von Herrn Petrík als Fahrer eines Frau Holingová gehörenden Pkw verursacht wurde. Das in der Slowakei zugelassene Fahrzeug von Frau Holingová, in dem Herr Haas saß, stieß mit einem in der Tschechischen Republik zugelassenen Lastkraftwagen zusammen. Herr Petrík, der diesen Unfall verschuldet hatte, wurde u.a. zum Ersatz des Frau Haasová, der Ehefrau des Todesopfers, durch den Unfall entstandenen Schadens verurteilt. Frau Haasová und ihre Tochter verlangen aber zudem vom Versicherer von Frau Holingová Ersatz des durch den Verlust ihres Ehemanns und Vaters entstandenen immateriellen Schadens.

Das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht führt aus, nach dem seines Erachtens im vorliegenden Fall anwendbaren tschechischen Zivilrecht habe eine natürliche Person Anspruch auf Ersatz des aus einer Beeinträchtigung der Unversehrtheit ihrer Person herrührenden immateriellen Schadens. Der Versicherer von Frau Holingová ist jedoch der Ansicht, dass sich die Deckung der obligatorischen Kfz-Haftpflichtversicherung nach slowakischem Recht nicht auf immaterielle Schäden erstrecke, und lehnt daher den Ersatz eines solchen Schadens ab.

Das Regionalgericht von Prešov, Slowakei, möchte vom EuGH wissen, ob die obligatorische Kfz-Haftpflichtversicherung immaterielle Schäden von Personen decken muss, die den Todesopfern eines Verkehrsunfalls nahestanden.

+++ C-277/12 +++
In Lettland kann zwar vom Versicherer des Verursachers eines Verkehrsunfalls Ersatz des immateriellen Schadens in Form von Schmerzen und seelischen Leiden infolge des Todes des Versorgers der Familie, einer abhängigen Person oder des Ehegatten verlangt werden, aber nur i.H.v. 100 LVL (etwa 142 €) je Antragsteller und verstorbener Person.

Am 14.2.2006 kamen die Eltern von Herrn Drozdovs bei einem Verkehrsunfall in Riga (Lettland) ums Leben. Herr Drozdovs, der damals zehn Jahre alt war, wurde daraufhin unter die Vormundschaft seiner Großmutter gestellt. Diese verlangte sodann vom Versicherer des Unfallverursachers als Ersatz für den immateriellen Schaden, den Herr Drozdovs durch den Verlust seiner Eltern erlitten hatte, einen Betrag von 200.000 LVL (etwa 284.820 €).

Der Senat des Obersten Gerichtshofs von Lettland, der mit dem Rechtsstreit zwischen Herrn Drozdovs und dem Versicherer befasst ist, stellt dem EuGH zum einen die gleiche Frage wie das slowakische Gericht in der Rechtssache C-22/12 und möchte zum anderen wissen, ob die im lettischen Recht vorgesehene Begrenzung des Höchstbetrags des aufgrund eines Verkehrsunfalls zu ersetzenden immateriellen Schadens mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Die Gründe:

+++ C-22/12 +++
Es ist zwischen der Pflicht der Kfz-Haftpflichtversicherung zur Deckung von Schäden, die durch Kfz entstehen, und dem Umfang des Ersatzes dieser Schäden im Rahmen der Haftpflicht des Versicherten zu unterscheiden. Erstere ist nämlich durch die Unionsregelung festgelegt und garantiert, Letzterer hingegen im Wesentlichen durch das nationale Recht geregelt.

Dabei steht es den Mitgliedstaaten nach wie vor grundsätzlich frei, im Rahmen ihrer Haftpflichtvorschriften zu regeln, welche von Kfz verursachten Schäden zu ersetzen sind, welchen Umfang dieser Schadensersatz hat und welche Personen Anspruch darauf haben. Um die bzgl. des Umfangs der Versicherungspflicht zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten fortbestehenden Unterschiede zu verringern, wurde jedoch durch die Union auf dem Gebiet der Haftpflicht eine Deckungspflicht für Sach- und Personenschäden in bestimmter, in der Zweiten Richtlinie festgelegter Höhe eingeführt. Die Mitgliedstaaten müssen daher die gedeckten Schäden sowie die Modalitäten der Kfz-Haftpflichtversicherung unter Berücksichtigung der Regeln des Unionsrechts bestimmen.

Zu den nach der Zweiten Richtlinie zwingend zu deckenden Personenschäden gehören alle Schäden, die aus einer Beeinträchtigung der Unversehrtheit der Person herrühren, wobei dies körperliche wie seelische Leiden umfasst. Daher gehören zu den nach Unionsrecht zu ersetzenden Schäden die immateriellen Schäden, deren Ersatz aufgrund der Haftpflicht des Versicherten das auf den Rechtsstreit anwendbare nationale Recht vorsieht. Der Schutz der Ersten Richtlinie erstreckt sich auf jede Person, die nach dem nationalen Haftpflichtrecht Anspruch auf Ersatz des von einem Kfz verursachten Schadens hat.

Da das tschechische Recht Frau Haasová und ihrer Tochter nach den Angaben des slowakischen Gerichts einen Anspruch auf Ersatz des infolge des Todes ihres Ehegatten und Vaters erlittenen immateriellen Schadens verschafft, müssten sie in den Genuss des durch diese Richtlinie gewährten Schutzes kommen können.

+++ C-277/12 +++
Die obligatorische Kfz-Haftpflichtversicherung muss immaterielle Schäden von Familienangehörigen des Opfers eines Verkehrsunfalls decken, wenn sie nach nationalem Recht Anspruch auf Ersatz solcher Schäden haben. Da das lettische Recht Herrn Drozdovs nach den Angaben des vorlegenden Gerichts einen Anspruch auf Ersatz des infolge des Todes seiner Eltern erlittenen immateriellen Schadens verschafft, müsste er in den Genuss des durch die Erste Richtlinie gewährten Schutzes kommen können.

Ein Mitgliedstaat, der einen Ausgleichsanspruch für immaterielle Schäden anerkennt, darf für diese spezielle Kategorie von Schäden, die zu den Personenschäden i.S.d. Zweiten Richtlinie gehören, keine Höchstdeckungssummen vorsehen, die unter den durch diese Richtlinie festgelegten Mindestdeckungssummen liegen. In der Richtlinie ist nämlich bzgl. der gedeckten Schäden eine andere Unterscheidung als die zwischen Personen- und Sachschäden weder vorgesehen noch erlaubt.

Linkhinweis:

  • Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung C-22/12 klicken Sie bitte hier.
  • Für den Volltext der Entscheidung C-277/12 klicken Sie bitte hier.
EuGH PM Nr. 144 vom 17.10.2013
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