11.08.2016

Zur Abwägung von Gesundheitsgefahren auf Gläubiger- und Schuldnerseite im Rahmen des Vollstreckungsschutzes

Ist das mit einer Zwangsräumung verbundene Gefährdungspotenzial für den Schuldner deutlich höher zu bewerten als die bei weiterem Vollstreckungsstillstand für den Gläubiger bestehenden Gesundheitsgefahren, so kommt eine befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung in Betracht, mit der dem Schuldner ein Arbeiten an seinem Gesundheitszustand auferlegt wird.

BGH 16.6.2016, I ZB 109/15
Der Sachverhalt:
Die Schuldnerin war im April 2012 vom LG zur Herausgabe des ihr von den Gläubigern vermieteten Bungalows verurteilt worden. Die Gläubiger betrieben daraufhin die Räumungsvollstreckung gegen die Schuldnerin. Die Schuldnerin beantragte im August 2012 beim AG Räumungsschutz und legte die Stellungnahme eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie vor, der zufolge eine Zwangsräumung zu einer für die Schuldnerin lebensbedrohlichen Situation führen könne.

Das AG wies den Vollstreckungsschutzantrag zurück. Im von der Schuldnerin betriebenen Beschwerdeverfahren stellte das LG die Zwangsvollstreckung einstweilen ein und holte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten zu der Frage ein, ob im Fall einer Zwangsräumung für die Schuldnerin eine Gesundheits- oder Lebensgefahr besteht. Im weiteren Verlauf wurde ein zweites psychiatrisches Gutachten zu der Frage, ob auch für die Gläubiger eine Gesundheits- oder Lebensgefahr besteht, eingeholt.

Im Anschluss daran hat das LG die Beschwerde zurück-gewiesen. Hiergegen richtete sich die Rechtsbeschwerde der Schuldnerin. Der BGH hat den Beschluss des LG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Die Gründe:
Treffen grundrechtlich geschützte Positionen verschiedener Grundrechtsträger aufeinander, ist dieser Konflikt nach der BVerfG-Rechtsprechung nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen. Diesem Grundsatz wird im Rahmen des § 765a ZPO im Fall einer konkreten Lebensgefahr für den Schuldner durch die sorgfältige Prüfung Rechnung getragen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Ist die Einstellung der Räumungsvollstreckung auch mit Gefahren für Leben oder Gesundheit des Gläubigers verbunden, stellt sich diese Frage mit noch größerer Dringlichkeit.

Damit stand die Entscheidung des LG allerdings nicht in Einklang, Zwar waren die Feststellungen zur konkreten Lebensgefahr für die Schuldnerin und zum Gesundheitszustand der Gläubiger rechtsfehlerfrei. Ebenso die Feststellung, dass das mit einer Zwangsräumung verbundene Gefährdungspotential für die Schuldnerin deutlich höher zu bewerten sei als die bei einem weiteren Vollstreckungsstillstand für die Gläubiger bestehenden Gesundheitsgefahren.

Rechtsfehlerhaft war allerdings die Beurteilung des LG, bei dieser Sachlage könne Vollstreckungsschutz nicht gewährt werden. Im Rahmen der Abwägung kann der unterschiedliche Gefährdungsgrad der Parteien nicht unberücksichtigt bleiben. Ist das mit einer Zwangsräumung verbundene Gefährdungspotential für die Schuldnerin deutlich höher zu bewerten als die mit einem weiteren Vollstreckungsstillstand für die Gläubiger bestehenden Gesundheitsgefahren, so kommt entgegen der Auffassung des LG eine befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung in Betracht, mit der der Schuldnerin auferlegt wird, durch geeignete Maßnahmen an einer Verbesserung ihres Gesundheitszustands zu arbeiten.

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