09.10.2020

Schlussanträge des Generalanwalts zu Rufbereitschaftsdiensten bei der Feuerwehr oder an entlegenem Ort

Generalanwalt Giovanni Pitruzzella vertritt in seinen Schlussanträgen die Ansicht, dass für die Einstufung der Bereitschaftszeiten als Arbeitszeit oder Ruhezeit der entscheidende Faktor die Intensität der Einschränkungen ist, die sich aus der Unterwerfung des Arbeitnehmers unter die Weisungen des Arbeitgebers ergeben, insbesondere die Reaktionszeit auf den Ruf des Arbeitgebers.

Der Sachverhalt:
Die Vorabentscheidungsverfahren betreffen die Frage, ob der Rufbereitschaftsdienst eines im Hochgebirge eingesetzten Sendetechnikers, der innerhalb einer Stunde am Arbeitsplatz sein können muss und sich während dieser Rufbereitschaftszeiten wegen des erschwerten Zugangs und der Entfernung des Arbeitsplatzes von seinem Wohnort in der Nähe des Arbeitsplatzes aufhält bzw. eines Feuerwehrmanns, der innerhalb von 20 Minuten die Grenzen der Stadt, in der er arbeitet, in Arbeitskleidung und mit dem Einsatzfahrzeug erreichen können muss, als Arbeitszeit oder als Ruhezeit anzusehen ist.

Die Gründe:
Hinsichtlich des Sendetechnikers (C-344/19) vertritt Generalanwalt Pitruzzella die Ansicht, unter den Umständen des vorliegenden Falls dürfe die Zeit der Rufbereitschaft eines Arbeitnehmers, der an einem Ort arbeitet, der schwierig zu erreichen ist, ohne dass der Arbeitgeber ihm örtliche Einschränkungen auferlegt und bei einer Reaktionszeit auf den Ruf des Arbeitgebers von einer Stunde, vorbehaltlich der Tatsachenfeststellungen, die auf der Grundlage der oben dargelegten Kriterien Sache des slowenischen Obersten Gerichtshofs sind, nicht als "Arbeitszeit" einzustufen sein. Der Umstand, dass sich der Arbeitnehmer für bestimmte Zeiträume in einer Unterkunft in der Nähe des Ortes seiner Arbeitserbringung (Rundfunk-Sendeanlage) aufhält, weil die geografische Besonderheit des Ortes die tägliche Rückkehr nach Hause unmöglich macht (oder erschwert), beeinflusse die rechtliche Einstufung der Zeit der Rufbereitschaft nicht.

Hinsichtlich des Feuerwehrmanns (C-580/19) vertritt der Generalanwalt die Ansicht, dass unter den Umständen des vorliegenden Falls die Zeiten der Rufbereitschaft eines Feuerwehrmanns, der der Verpflichtung unterliegt, innerhalb von 20 Minuten - einer nicht übermäßig kurzen Reaktionszeit, die aber auch nicht offenkundig geeignet sei, eine tatsächliche Ruhezeit des Arbeitnehmers zu gewährleisten - in Arbeitskleidung und mit dem Einsatzfahrzeug die Grenze der Stadt erreichen zu können, in der sich seine Dienststelle befindet, auch ohne dass der Arbeitgeber ihm genaue örtliche Einschränkungen auferlegt, in dem Fall als "Arbeitszeit" eingestuft werden können, dass die Tatsachenfeststellungen, die Sache des VG Darmstadt seien, das Vorliegen einiger der Indizien ergeben sollten, die zusammen mit der Dauer der Reaktionszeit dazu führen, dass die tatsächliche Ruhezeit des Arbeitnehmers nicht sichergestellt sei.

Für den Fall, dass die Reaktionszeit auf den Ruf des Arbeitgebers kurz, aber nicht so kurz ist, dass die freie Wahl des Ortes, an dem der Arbeitnehmer die Zeit der Rufbereitschaft verbringt, völlig verhindert wird, können zusätzliche Indizien herangezogen werden, die insgesamt zu prüfen seien, wobei die Gesamtwirkung zu berücksichtigen sei, die alle Bedingungen der Durchführung in einem System der Rufbereitschaft auf die Ruhezeit des Arbeitnehmers haben könnten.

Diese Indizien müssten sich aus der Ausübung der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers ergeben - und dem damit verbundenen Zustand der Abhängigkeit des Arbeitnehmers, der in der Beziehung der Schwächere sei - und dürften sich nicht aus objektiven Situationen ergeben, die nichts mit dem Kontrollbereich des Arbeitgebers zu tun haben.

Sie könnten z.B. bestehen im Handlungsspielraum des Arbeitnehmers ggü. dem Ruf des Arbeitgebers, in den Folgen, die im Fall der Verspätung oder des unterlassenen Tätigwerdens bei einem Ruf zum Einsatz vorgesehen sind, in der Notwendigkeit, Funktionskleidung für die Arbeit zu tragen, in der Verfügbarkeit eines Dienstwagens für die Erreichung des Einsatzorts, in der zeitlichen Festlegung und der Dauer der Zeit der Rufbereitschaft sowie in der mutmaßlichen Häufigkeit der Einsätze.

Außerdem vertritt Generalanwalt Pitruzzella die Ansicht, dass bei der Definition von "Arbeitszeit" auch zu berücksichtigen ist - wenn auch ohne jeden Automatismus, lediglich als ergänzendes Kriterium -, ob und inwieweit der Arbeitnehmer während eines Bereitschaftsdiensts mit einer dienstlichen Inanspruchnahme zu rechnen hat. Eine hohe Häufigkeit der Einsätze während der Zeiten der Rufbereitschaft könnte nämlich zu einer so umfassenden Einbindung des Arbeitnehmers führen, dass sie seine Möglichkeit, die Freizeit während dieser Zeiten zu planen, fast auf Null reduziert, so dass sie, wenn noch der Umstand einer kurzen Reaktionszeit auf den Ruf des Arbeitgebers hinzukommt, die tatsächliche Ruhezeit des Arbeitnehmers beeinträchtigen könnte.
EuGH PM vom 6.10.2020
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