05.11.2019

Zugang einer Kündigungserklärung bei Einwurf in einen Hausbriefkasten

Das in einen Hausbriefkasten eingeworfene Kündigungsschreiben geht dem Empfänger in dem Zeitpunkt zu, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist. Die Fortdauer des Bestehens oder Nichtbestehens einer Verkehrsanschauung wird nicht vermutet. Zu den tatsächlichen Grundlagen einer gewandelten Verkehrsanschauung muss das LAG Feststellungen treffen.

BAG v. 22.8.2019 - 2 AZR 111/19
Der Sachverhalt:
Der Kläger wohnt in Frankreich und ist seit Jahren bei der Beklagten in deren Werk in Baden-Württemberg beschäftigt. Die Beklagte hatte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 27.1.2017, einem Freitag, außerordentlich fristlos gekündigt. Die Kündigung wurde an diesem Tag von Mitarbeitern der Beklagten gegen 13:25 Uhr in den Hausbriefkasten des Klägers eingeworfen. Die Postzustellung am Werksstandort ist bis gegen 11:00 Uhr vormittags beendet.

Mit seiner am 20.2.2017 (Montag) beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage machte der Kläger die Rechtsunwirksamkeit der Kündigung geltend. Er gab an, das das Kündigungsschreiben erst am 30.1.2017 (Montag) in seinem Hausbriefkasten vorgefunden zu haben. Dieses sei ihm nicht am 27.1.2017, sondern frühestens am Folgetag zugegangen.

Infolgedessen beantragte der Kläger gerichtlich festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 27.1.2017 nicht mit sofortiger Wirkung aufgelöst worden war. Arbeitsgericht und LAG haben die Klage abgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat das BAG das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen.

Die Gründe:
Mit der gegebenen Begründung durfte das Berufungsgericht den Kündigungsschutzantrag nicht abweisen.

Nach ständiger BAG- und BGH-Rechtsprechung geht eine verkörperte Willenserklärung unter Abwesenden i.S.v. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB zu, sobald sie in verkehrsüblicher Weise in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers gelangt ist und für diesen unter gewöhnlichen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, von ihr Kenntnis zu nehmen. So bewirkt der Einwurf in einen Briefkasten den Zugang, sobald nach der Verkehrsanschauung mit der nächsten Entnahme zu rechnen ist. Dabei ist nicht auf die individuellen Verhältnisse des Empfängers abzustellen. Im Interesse der Rechtssicherheit ist vielmehr eine generalisierende Betrachtung geboten.

Die Feststellung des Bestehens und Inhalts einer Verkehrsanschauung ist eine im Wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet liegende Frage, deren tatrichterliche Beantwortung nur einer eingeschränkten revisionsrechtlichen Kontrolle daraufhin unterliegt, ob das Berufungsgericht bei seiner Würdigung einen falschen rechtlichen Maßstab angelegt, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Umstände unberücksichtigt gelassen hat. Das LAG kann zur Bestimmung des Zugangszeitpunkts auch eine (gewandelte) Verkehrsanschauung feststellen, die etwa aufgrund geänderter Lebensumstände eine spätere Leerung des Hausbriefkastens - etwa mehrere Stunden nach dem Einwurf oder bezogen auf eine "feste" Uhrzeit am Tag - zum Gegenstand hat. Die Frage nach einer Verkehrsanschauung kann regional unterschiedlich zu beurteilen sein und die Antwort kann sich im Lauf der Jahre ändern. Die Fortdauer des Bestehens oder Nichtbestehens einer Verkehrsanschauung wird nicht vermutet. Zu den tatsächlichen Grundlagen einer gewandelten Verkehrsanschauung muss das LAG Feststellungen treffen.

Die vom Berufungsgericht in Bezug genommenen "Normalarbeitszeiten während der Tagesstunden" eines "erheblichen Teils der Bevölkerung" lassen für sich allein keinen Rückschluss auf eine Verkehrsanschauung betreffend die Gepflogenheiten des Verkehrs hinsichtlich der Leerung eines Hausbriefkastens am Wohnort des Klägers zu. Schon nach den Zahlen, von denen es ausgeht, ist nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung überhaupt kernerwerbstätig, darunter 6,8 Millionen Personen als geringfügig Beschäftigte oder in Teilzeit mit weniger als 20 Stunden Wochenarbeitszeit. Daneben hat es noch 5 % Nachtarbeitnehmer berücksichtigt, die nicht zu Normalarbeitszeiten arbeiteten. Auf flexible Arbeitszeitmodelle oder im Homeoffice Tätige geht das LAG nicht ein. Es begründet ferner nicht, warum die Lebensumstände der in einem "Normalarbeitszeitverhältnis" tätigen Minderheit der Bevölkerung die Verkehrsauffassung betreffend die Leerung von Hausbriefkästen der Gesamtbevölkerung bestimmen sollen. Darüber hinaus hat es nicht bedacht, dass der Kläger, an dessen Wohnanschrift die Zustellung durchgeführt wurde, nicht in Deutschland, sondern in Frankreich wohnt.

Linkhinweis:
  • Der Volltext der Entscheidung wird demnächst auf den Webseiten des BAG veröffentlicht.
  • Für den Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.
     
BAG online
Zurück