13.06.2016

Begrenzte Rückwirkung einer Verzögerungsrüge

Durch eine verspätet erhobene Verzögerungsrüge wird der Anspruch eines Entschädigungsklägers auf Entschädigung der durch die überlange Verfahrensdauer erlittenen Nachteile auf einen Zeitraum begrenzt, der im Regelfall sechs Monate vor Erhebung der Rüge umfasst. Zur Ermittlung des materiellen Nachteils sind die wirtschaftlichen Folgen des tatsächlichen Geschehensablaufs mit denen eines Verfahrensverlaufs ohne die unangemessene Verzögerung zu vergleichen.

BFH 6.4.2016, X K 1/15
Der Sachverhalt:
Gegenstand des Ausgangsverfahrens war die Rechtmäßigkeit von Steuerbescheiden, in denen das Finanzamt von einer unbeschränkten Steuerpflicht des Klägers ausgegangen war und Einkommensteuer, Solidaritätszuschlag sowie Zinsen für die Streitjahre 1995 bis 2001 sowie 2003 bis 2005 i.H.v. rund 660.000 € festsetzt hatte. Materiell-rechtlich war die Frage zu entscheiden, ob der Kläger in den Streitjahren im Inland über einen Wohnsitz gem. § 8 AO verfügt hatte. Die Steuerbehörde ging im Jahr 2006 davon aus, dass der Kläger seinen inländischen Wohnsitz beibehalten habe und durch die Abmeldung der inländischen und die Anmeldung ausländischer Wohnsitze versucht habe, die Besteuerung der erhaltenen Handelsvertreterprovisionen zu vermeiden und leitete ein Steuerstrafverfahren gegen den Kläger ein, das im Dezember 2009 gem. § 170 Abs. 2 StPO wieder eingestellt wurde.

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gegen die Steuerbescheide der Streitjahre erhob der Kläger am 3.8.2010 Klage vor dem FG. Am 14.4.2011 begründete das Finanzamt seinen Antrag auf Klageabweisung. Das FG übersandte den Schriftsatz am 19.4.2011 dem Kläger mit der Bitte um Stellungnahme. Dieser teilte am 24.10.2012 persönlich dem FG seine Adressänderung in der Schweiz mit. Mit Schreiben vom 29.10.2012 wurde der Kläger vom FG an die Erledigung des Schreibens vom 19.4.2011 erinnert, woraufhin der Kläger am 31.10.2012 mit erneuter Stellungnahme reagierte. Das Finanzamt verzichtete am 9.1.2013 auf eine weitere Stellungnahme.

Am 27.7.2013 erhob der Kläger Verzögerungsrüge. Nach einem senatsinternen Berichterstatterwechsel lud das FG am 17.9.2014 die Beteiligten zur mündlichen Verhandlung am 5.11.2014. Am 30.9.2014 wurden zu diesem Termin sechs Zeugen geladen. Am 22.10.2014 wies der Berichterstatter zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung darauf hin, die Bestimmung des Wohnsitzes enthalte ein Zeitelement, bei dem auf die Sechsmonatsfrist des § 9 S. 2 AO zurückgegriffen werden könne. Er bat das Finanzamt im Hinblick auf die bislang zusammengetragenen Indizien sowie die Frage der eigenen örtlichen Zuständigkeit zu überprüfen, ob die Steuerbescheide aufrechterhalten werden sollten. Da das Finanzamt sowie der Kläger daraufhin die Vernehmung weiterer Zeugen beantragten, wurde der Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 16.12.2014 verlegt. In diesem Termin sagte das Finanzamt zu, die streitgegenständlichen Bescheide aufzuheben und die Parteien erklärten übereinstimmend den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.

Am 8.4.2015 hat der Kläger Entschädigungsklage gegen das Land NRW erhoben. Er war der Ansicht, dass eine Verfahrensdauer von 50 1/2 Monaten nicht hingenommen werden müsse. Der BFH gab der Klage statt.

Gründe:
Das Klageverfahren beim FG war um 20 Monate verzögert. Dem Kläger steht wegen der überlangen Dauer des Verfahrens für einen Zeitraum von 19 Monaten eine Entschädigung für materielle Nachteile i.H.v. 2.375 € sowie für immaterielle Nachteile i.H.v. 1.900 € zu. Das FG hätte nach gut zwei Jahren, also im September 2012, mit der Bearbeitung des Verfahrens beginnen müssen. Zwar war dem FG zuzugeben, dass es nach seiner Aufforderung zur Stellungnahme von dem Kläger noch eine Äußerung zur Klageerwiderung des Finanzamtes erwarten durfte und nicht davon ausgehen musste, das Verfahren sei bereits ausgeschrieben. Dennoch hatte die fehlende Reaktion des Klägers das FG nicht davon entbunden, das Verfahren nach gut zwei Jahren voranzutreiben, was es jedoch verabsäumt hatte. Das bedeutete, dass im September 2012 das Verfahren verzögert worden war.

In der Zeit von Oktober 2012 bis Januar 2013 wurde das Verfahren gefördert, denn es ist nicht als unangemessen anzusehen, wenn das FG etwas mehr als zwei Monate auf eine angeforderte Stellungnahme des Finanzamtes wartet. Allerdings war das Verfahren ab Februar 2013 bis August 2014 vom FG erneut nicht gefördert worden. Schließlich hatte das FG selbst die Verzögerungsrüge des Klägers nicht zum Anlass genommen, tätig zu werden, so dass das Verfahren um weitere 19 Monate verzögert war. Vom September 2014 an wurde das Verfahren sachgerecht und zügig mit dem Ergebnis betrieben, dass das Finanzamt die Aufhebung der Steuerbescheide zusagte und die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärten.

Zur Ermittlung des materiellen Nachteils sind die wirtschaftlichen Folgen des tatsächlichen Geschehensablaufs mit denen eines Verfahrensverlaufs ohne die unangemessene Verzögerung zu vergleichen. Der materielle Nachteil i.S.d. § 198 Abs. 1 GVG lag darin, dass der Kläger für die Zeit der überlangen Verfahrensdauer die Kosten der vom Finanzamt geforderten Bankbürgschaft zu tragen hatte. Da die Belastung jährlich 1.500 € betragen hatte, war während der neunzehnmonatigen Verzögerung ein zu entschädigender Vermögensschaden i.H.v. 2.375 € entstanden. In Bezug auf die Untätigkeit des Gerichtes im September 2012 konnte lediglich die überlange Verfahrensdauer festgestellt werden, da die erst im Juli 2013 erhobene Verzögerungsrüge, die gem. § 198 Abs. 3 S. 1 GVG notwendige Voraussetzung für eine Entschädigung ist, nicht unbeschränkt auf eine bereits zehn Monate zurückliegende Verfahrensverzögerung zurückwirken konnte.

Allein um die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Rechtsprechung im Bereich der Entschädigungsklagen zu verbessern, erscheint es dem erkennenden Senat notwendig, den in der Rechtspraxis nur schwer fassbaren Zeitraum eines unzulässigen "Duldens und Liquidierens" durch eine Vermutungsregel zu typisieren. Ihm erscheint dabei für den Regelfall ein Zeitraum von gut sechs Monaten, für den eine Verzögerungsrüge zurückwirkt, als angemessen und zumutbar. Gesetzliche Anhaltspunkte für diese Zeitspanne sind § 198 Abs. 3 S. 2 GVG sowie § 198 Abs. 5 S. 1 GVG.

Für einen Entschädigungskläger ist die hierin liegende Einschränkung der Rückwirkung auch deshalb zumutbar, weil nur sehr geringe Anforderungen daran gestellt werden, ein Verhalten oder eine Äußerung des Klägers als Verzögerungsrüge auszulegen. Auch ist der Zeitraum, innerhalb dessen der künftige Entschädigungskläger die Verzögerungsrüge treffen muss, durch deren begrenzte Rückwirkung nicht unzumutbar knapp bemessen: Zwar ist eine eindeutig zu früh erhobene Rüge unwirksam; für eine wirksame Rüge ist aber nicht Voraussetzung, dass objektiv schon eine Verzögerung eingetreten ist, sondern es genügt, dass die "Besorgnis der Gefährdung" besteht.

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