16.10.2020

Erstmaliger Eintritt der Voraussetzungen für einen erfolgreichen Antrag auf Günstigerprüfung nach Eintritt der Bestandskraft

Die Festsetzung der Steuer in einem Änderungsbescheid nach Eintritt der Bestandskraft, die aufgrund der im Änderungsbescheid berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen erstmals eine erfolgreiche Antragstellung gem. § 32d Abs. 6 EStG ermöglicht, ist ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, das einen korrekturbedürftigen Zustand auslöst.

BFH v. 14.7.2020 - VIII R 6/17
Der Sachverhalt:
Der Kläger erzielte im Streitjahr 2010 u.a. Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus der Beteiligung als Mitunternehmer an einer KG. In der gesonderten und einheitlichen Feststellung der Besteuerungsgrundlagen für das Streitjahr wurden ihm (zunächst) Einkünfte als Mitunternehmer der KG i.H.v. 305.814 € zugerechnet. In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr beantragten der Kläger und seine Ehefrau in ihren Anlagen KAP jeweils eine Überprüfung des Steuereinbehalts für sämtliche Kapitaleinkünfte gemäß § 32d Abs. 4 EStG. Die Kapitalerträge hatten durchweg dem inländischen Steuerabzug unterlegen. Beim Kläger und seiner Ehefrau war im Rahmen des Kapitalertragsteuereinbehalts kein Sparerpauschbetrag berücksichtigt worden.

Die Kläger stellten in der Einkommensteuererklärung keinen Antrag auf Günstigerprüfung gem. § 32d Abs. 6 EStG. Hierzu bestand aufgrund der Höhe der Einkünfte des Klägers kein Anlass, da eine Hinzurechnung der Kapitalerträge der Kläger zu den übrigen Einkünften nicht zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung geführt hätte. In dem für das Streitjahr ergangenen Einkommensteuerbescheid vom 3.1.2012 und einem geänderten Bescheid vom 1.2.2012 wurden die Kapitalerträge der Kläger als Einkünfte aus Kapitalvermögen veranlagt, die dem gesonderten Tarif gem. § 32d Abs. 1 EStG unterlagen. Nach Abzug der Sparerpauschbeträge entfielen auf den Kläger Kapitaleinkünfte i.H.v. 31.629 € und auf die Klägerin in Höhe von 0 €. Der dem ersten Bescheid für das Streitjahr beigefügte Vorbehalt der Nachprüfung wurde im geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 1.2.2012 aufgehoben. Dieser Einkommensteuerbescheid wurde nicht angefochten und daher bestandskräftig.

In einer späteren gesonderten und einheitlichen Feststellung der Besteuerungsgrundlagen für das Streitjahr wurden für den Kläger Einkünfte aus der KG in Höhe von Null € festgestellt. Das Finanzamt erließ daraufhin am 4.4.2014 einen geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr. Der Ansatz der Kapitalerträge der Kläger blieb unverändert. Die festgesetzte Einkommensteuer minderte sich aufgrund der geänderten Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb von zuvor 118.311 € auf 7.733 €. Auf Grundlage der im geänderten Einkommensteuerbescheid berücksichtigten Besteuerungsgrundlagen konnte ein Antrag der Kläger auf Günstigerprüfung gem. § 32d Abs. 6 EStG erstmals zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung führen.

Die Kläger beantragten mit dem Einspruch, die Günstigerprüfung gem. § 32d Abs. 6 EStG durchzuführen, die Kapitaleinkünfte den übrigen tariflich besteuerten Einkünften hinzuzurechnen und die festzusetzende Steuer herabzusetzen. Das Finanzamt lehnte dies ab. Das FG gab er hiergegen gerichteten Klage statt. Die Revision der Steuerbehörde vor dem BFH blieb erfolglos.

Gründe:
Das FG hat zu Recht die Voraussetzungen für eine Änderung des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr vom 4.4.2014 zugunsten der Kläger gem. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 351 Abs. 1 Halbsatz 2 AO i.V.m. dem im Einspruchsverfahren erstmals gestellten Antrag auf Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG als erfüllt angesehen.

Der Antrag auf Günstigerprüfung kann zeitlich unbefristet gestellt werden. Die Möglichkeit, aufgrund der Antragstellung eine Herabsetzung der festzusetzenden Einkommensteuer zu erreichen, wird aber durch das allgemeine verfahrensrechtliche Institut der Bestandskraft und die Regelung des § 351 Abs. 1 AO begrenzt. Wird - wie im Streitfall - ein Antrag auf Günstigerprüfung gem. § 32d Abs. 6 EStG vom Steuerpflichtigen erstmals nach Ergehen eines Änderungsbescheids gestellt und lässt sich hierdurch eine Steuerminderung erzielen, kann diese gem. § 351 Abs. 1 Halbsatz 2 AO nur berücksichtigt werden, soweit die Bestandskraft der Steuerfestsetzung aufgrund einer verfahrensrechtlichen Änderungsvorschrift (etwa §§ 172 ff. AO) zugunsten des Antragstellers durchbrochen werden kann.

Der Senat hat nun entschieden, dass die Festsetzung der Steuer in einem Änderungsbescheid, die aufgrund darin berücksichtigter veränderter Besteuerungsgrundlagen dem Steuerpflichtigen nach Eintritt der Bestandskraft erstmals eine erfolgreiche Antragstellung gem. § 32d Abs. 6 EStG ermöglicht, ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist. Dagegen ist die Antragstellung selbst kein rückwirkendes Ereignis. Gemeint ist hiermit der Fall, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Antragstellung gem. § 32d Abs. 6 EStG bereits vor Eintritt der Bestandskraft der Steuerfestsetzung vorliegen, also die Hinzurechnung der Kapitalerträge zu den übrigen Einkünften aufgrund der der bestandskräftigen Steuerfestsetzung zugrundeliegenden Besteuerungsgrundlagen zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung führt, und es allein an der notwendigen Antragstellung fehlt. Wird der Antrag in diesem Fall nach Eintritt der Bestandskraft erstmals gestellt, ist die Antragstellung gem. § 32d Abs. 6 EStG kein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO.

Hiervon abzugrenzen ist jedoch die im Streitfall vorliegende Konstellation. Tatbestandliche Voraussetzung eines Antrags auf Günstigerprüfung gem. § 32d Abs. 6 EStG ist, dass eine Hinzurechnung der Kapitaleinkünfte zu den übrigen Einkünften zu einer niedrigeren Festsetzung der Einkommensteuer samt der Zuschlagsteuern führt. Ob die Steuer aufgrund einer Hinzurechnung der Kapitaleinkünfte niedriger festzusetzen ist, richtet sich nach den Besteuerungsgrundlagen, die in demjenigen Bescheid enthalten sind, für den die Günstigerprüfung durchgeführt werden soll.

Werden nach Eintritt der Bestandskraft der Steuerfestsetzung in einem Änderungsbescheid geänderte Besteuerungsgrundlagen in einer Weise berücksichtigt, dass ein Antrag gemäß § 32d Abs. 6 EStG - erstmals erfolgreich - gestellt werden kann, handelt es sich um ein rückwirkendes Ereignis i.S.d. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Denn durch den Erlass des Änderungsbescheids verändert sich nach Eintritt der Bestandskraft der maßgebliche Sachverhalt für die Beurteilung der Frage, ob die Hinzurechnung der Kapitaleinkünfte zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung führt. Durch die nach Eintritt der Bestandskraft aufgrund des Änderungsbescheids entstehende Möglichkeit, einen Antrag auf Günstigerprüfung gem. § 32d Abs. 6 EStG erstmals erfolgreich stellen zu können, entsteht ein Zustand, der das Bedürfnis auslöst, die bestandskräftige Steuerfestsetzung an die geänderte Situation anzupassen.
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