24.02.2022

Feststellung der Fähigkeit volljähriger behinderter Kinder zum Selbstunterhalt

Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits zu prüfen. Allein aus dem Umstand, dass der Sozialleistungsträger den dem Grunde nach Kindergeldberechtigten auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrags für das Kind in Anspruch nimmt, ist nicht abzuleiten, dass dieses zum Selbstunterhalt außerstande ist.

Kurzbesprechung
BFH v. 27.10.2021 -  III R 19/19

EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2; SGB XII § 94; BGB § 1602, § 1610

Strittig ist auf welche Weise bei der Festsetzung von Kindergeld zu ermitteln ist, ob ein volljähriges Kind aufgrund seiner Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Die Stpfl. ist die Mutter des im Jahr 1988 geborenen Kindes (K). Dieses ist seit seinem 14. Lebensjahr mit einem Grad der Behinderung von 70 und dem Merkzeichen "G" schwerbehindert. K wohnt seit August 2012 in einer stationären Einrichtung. Die monatlichen Kosten hierfür i.H.v. 850 € für den Lebensunterhalt und von 3.200 € für die fachliche Hilfe werden vom L im Rahmen der Eingliederungshilfe übernommen. Seit Juni 2015 ist die Stpfl. K bei der Stadt U im allgemeinen Verwaltungsdienst beschäftigt und erhielt für die Vollzeittätigkeit ab Januar 2016 ein Bruttogehalt von 2.236 € (1.443 € netto). Der L beteiligte K bis April 2016 mit monatlich 506,45 € an den Kosten für seine Unterbringung und Betreuung in der Einrichtung. Durch Änderungsbescheid vom 29.4.2016 wurde K rückwirkend zu einer erhöhten Kostenbeteiligung u.a. ab Januar 2016 von 845,81 € monatlich herangezogen.

Mit Bescheid vom 16.7.2015 hob das zunächst als Familienkasse zuständige Landesamt für Besoldung und Versorgung (LBV) die Kindergeldfestsetzung ab 1.7.2015 auf. Den Antrag der Stpfl. auf Festsetzung von Kindergeld für Januar 2016 lehnte das LBV mit Bescheid vom 15.11.2016 ab. Der dagegen gerichtete Einspruch blieb ebenso erfolglos wie die Klage.

Mit der Revision rügt die Stpfl. die Verletzung materiellen Bundesrechts. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen. Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Stpfl. für den Monat Januar 2016 kein Kindergeld für K zusteht. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung wie im Streitfall vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.

Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Ist das Kind hingegen trotz seiner Behinderung in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinde­rung keine Bedeutung zu. Der gesamte Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich aus dem betragsmäßig an den Grundfreibetrag i.S. des § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG anknüpfenden   Grundbedarf und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen (BFHE 253, 249, BStBl II 2016, 648, Rz 11 und 12, m.w.N.). Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben, insbesondere solche für Hilfen bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens (BFHE 268, 13, BStBl II 2021, 807, Rz 19). Diese können einzeln nachgewiesen werden. Dem Steuerpflichtigen kommen nach der Rechtsprechung des BFH beim Nachweis aber Erleichterungen zugute. Erbringt er keinen Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen.

Zu den Voraussetzungen bürgerlich-rechtlicher Unterhaltspflichten gehört zwar u.a. die Bedürftigkeit gemäß § 1602 BGB. Dessen Absatz 1 bestimmt, dass unterhaltsberechtigt nur ist, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Obwohl die in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG verwendete Formulierung im Wesentlichen dieser Regelung entspricht, ist die bürgerlich-rechtliche Belastung des Steuerpflichtigen durch Unterhaltspflichten für das Einkommensteuerrecht nicht maßgebend. Vielmehr regelt § 32 Abs. 4 EStG die Leistungsfähigkeit bestimmter Gruppen von Kindern, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, eigenständig.

Im Ergebnis hat das FG zu Recht angenommen, dass K mit seinen Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit und mit der Eingliederungshilfe im Monat Januar 2016 über ausreichende Mittel verfügte, um seinen Grundbedarf und seinen behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken.
Verlag Dr. Otto Schmidt
Zurück