31.08.2011

Maßgebliche Kriterien für die Anwendung von Schätzungen bei Anklagen wegen Steuerhinterziehung

Wird eine Anklage wegen Steuerhinterziehung und Vorenthaltens von Arbeitsentgelten auf eine Schätzung gestützt, obwohl eine exaktere Berechnung nach weiteren Ermittlungen, die zwar keinen unangemessenen Aufwand erfordern, jedoch über lediglich ergänzende Beweiserhebungen i.S.v. § 202 StPO hinausgehen, möglich ist, so rechtfertigt dies die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts. Andernfalls würde die Hauptverhandlung mit unnötigem Aufklärungsaufwand belastet.

OLG Celle 19.7.2011, 1 Ws 271-274/11
Sachverhalt:
Die Staatsanwaltschaft hatte den Angeschuldigten gewerbsmäßigen Bandenbetrug und verschiedene Steuerdelikte vorgeworfen. Ihnen wurde zur Last gelegt, als Verantwortliche einer GmbH insgesamt 179 nur als "geringfügig beschäftigt" gemeldete Arbeitnehmer als Toilettenreinigungskräfte an Autobahnraststätten in weitaus größerem Maße beschäftigt und dadurch den Einzugsstellen Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von rund 1,5 Mio. € vorenthalten zu haben. Des Weiteren hätten die Angeschuldigten Einnahmen aus sog. Tellergeldern nicht verbucht und dadurch Umsatzsteuer i.H.v. rund 58.375 € hinterzogen sowie aus den "Tellergeldern" verdeckte Lohnzahlungen an ihre Arbeitnehmer geleistet und dadurch Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag hinterzogen.

Das LG hat die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen der Anklagevorwürfe des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelten, der Verkürzung von Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag sowie der Verkürzung von Umsatzsteuer komplett abgelehnt. Die Ablehnung erfolgte zum Teil aus tatsächlichen und zum Teil aus sowohl tatsächlichen als auch rechtlichen Gründen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft blieb vor dem OLG erfolglos.

Gründe:
Das Hauptverfahren war gem. § 204 Abs. 1 StPO abzulehnen, da die Anklage sich auf unzulässige Schätzungen gestützt hatte.

Zwar ist die Schätzung hinterzogener Steuern und vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge grundsätzlich dem Tatrichter gestattet. Allerdings lagen hier die hierfür notwendigen Voraussetzungen bislang nicht vor. Die für die Anwendung und Durchführung einer Schätzung maßgeblichen Kriterien hat der BGH wie folgt zusammengefasst:

  • Für eine annähernd genaue Berechnung fehlen aussagekräftige Beweismittel. Bei Vermögensdelikten im Rahmen eines Unternehmens sind das namentlich Belege und Aufzeichnungen.
  • Die Parameter der Schätzgrundlage müssen tragfähig sein.
  • Die Schätzung kann auch aus verfahrensökonomischen Gründen angezeigt sein, etwa dann, wenn eine exakte Berechnung einen unangemessenen Aufklärungsaufwand erfordert und bei exakter Berechnung für den Schuldumfang nur vernachlässigbare Abweichungen zu erwarten sind.
  • Im Rahmen der Gesamtwürdigung des Schätzergebnisses ist der Zweifelssatz zu beachten.
  • Die Grundlagen der Schätzung müssen im tatrichterlichen Urteil für das Revisionsgericht nachvollziehbar dargestellt werden.

Hiernach wären die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Berechnungen zwar grundsätzlich tragfähig gewesen. Allerdings darf bei der Ermittlung der Schwarzlohnsumme "nicht vorschnell auf eine Schätzung ausgewichen werden, wenn eine tatsachenfundierte Berechnung anhand der bereits vorliegenden Beweismittel möglich erscheint". Die zuverlässige Klärung, ob eine für die Berechnung verlässliche Tatsachengrundlage beschafft werden kann, ist dabei auch und besonders Aufgabe der Ermittlungsbehörden. Deshalb wäre es verfehlt und würde die Hauptverhandlung mit unnötigem Aufklärungsaufwand belasten, wenn die Ermittlungsbehörden sich darauf beschränkten, die Lohnsumme zu schätzen, ohne zuvor ausermittelt zu haben, ob eine tatsachenfundierte Berechnung möglich ist.

So lag der Fall auch hier. Die vorliegenden Berechnungen waren zwar tatsachenfundiert, eine genauere Ermittlung erschien aber durch Vernehmung der bislang nicht vernommenen Arbeitnehmer möglich. Den damit verbundenen Aufwand war im Verhältnis zu dem zu erwartenden Nutzen nicht als unangemessen anzusehen. Die Zahl der zu vernehmenden Personen war für ein Verfahren dieses Umfangs nicht ungewöhnlich hoch. Soweit die Staatsanwaltschaft die Glaubhaftigkeit der zu erwartenden Aussagen von vornherein anzweifelte, handelte es sich um eine Vermutung, die die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen nicht entfallen ließ.

Linkhinweis:

Für den in der Rechtsprechungsdatenbank der niedersächsischen OLG veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

Rechtsprechungsdatenbank der niedersächsischen OLG
Zurück