11.08.2022

Nacherhebung der Kapitalertragsteuer für eine offene Gewinnausschüttung in den Fällen des § 27 Abs. 5 Satz 2 KStG

1. Wird für eine offene Gewinnausschüttung gemäß § 27 Abs. 5 Satz 2 KStG eine bescheinigte Einlagenrückgewähr in Höhe von 0 € fingiert, überlagert die Fiktion bereits im Ausschüttungszeitpunkt den Umstand, dass nach der Verwendungsrechnung des § 27 Abs. 1 Sätze 3 bis 5 KStG kein ausschüttbarer Gewinn verwendet wird.
2. Greift die Fiktion des § 27 Abs. 5 Satz 2 KStG, entstehen die Kapitalertragsteuer und die damit verbundenen kapitalertragsteuerlichen Pflichten der steuerentrichtungspflichtigen Kapitalgesellschaft nicht erst mit der Bekanntgabe des gesonderten Feststellungsbescheids für das Einlagekonto als das die Fiktion auslösende Ereignis, sondern mit dem Zufluss der Ausschüttung.

Kurzbesprechung
BFH v. 17. Mai 2022 - VIII R 14/18

KStG § 27 Abs 1 S 3, § 27 Abs 1 S 5, § 27 Abs 3 S 1, § 27 Abs 3 S 2, § 27 Abs 5 S 1, § 27 Abs 5 S 2
EStG § 20 Abs 1 Nr. 1 S 1, § 20 Abs 1 Nr. 1 S 3, § 43 Abs 1 S 1 Nr. 1, § 44 Abs 1 S 5, § 44 Abs 2, § 44 Abs 5 S 1
AO § 167 Abs 1 S 1


Im Streitfall hatte eine GmbH am 27.07.2010 eine Gewinnausschüttung über 5 Mio. € im Sinne von § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG getätigt, die gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG dem Kapitalertragsteuerabzug unterliegt.

Die Ausschüttung vom 27.07.2010 war auch nicht als Einlagenrückgewähr gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG zu qualifizieren. Denn im rechtskräftigen gesonderten Feststellungsbescheid über das Einlagekonto zum 31.12.2010 wurde festgestellt, dass das Einlagekonto für die Ausschüttung vom 27.07.2010 nicht verwendet wurde. Die Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 EStG waren daher nicht erfüllt. Die Ausschüttung war als ein (kapitalertrag)steuerpflichtiger Kapitalertrag gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 i.V.m. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG anzusehen.

Wegen der nicht erteilten Bescheinigung gemäß § 27 Abs. 3 Satz 1 KStG galt die Einlagenrückgewähr für die Ausschüttung mit der Bekanntgabe des gesonderten Feststellungsbescheids zum Einlagekonto auf den 31.12.2010 gemäß § 27 Abs. 5 Satz 2 KStG in Höhe von 0 € als bescheinigt. Diese Fiktion wurde gemäß § 27 Abs. 5 Satz 1 KStG der gesonderten Feststellung des Einlagekontos zugrunde gelegt und das Einlagekonto zum 31.12.2010 danach zutreffend ohne eine Minderung wegen der Ausschüttung zum Stand am 31.12.2009 in unveränderter Höhe festgestellt.

Die Fiktion der Nichtverwendung des Einlagekontos für die Ausschüttung der Steuerpflichtigen gemäß § 27 Abs. 5 Satz 2 KStG e die materiell-rechtliche Prüfung der Einlagenrückgewähr anhand der Verwendungsrechnung i.S. des § 27 Abs. 1 Sätze 3 bis 5 KStG. Damit war der (kapitalertrag)steuerpflichtige Kapitalertrag gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 i.V.m. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nicht erst bei Bekanntgabe des gesonderten Feststellungsbescheids zum Einlagekonto, sondern bereits im Zeitpunkt der Ausschüttung vorhanden.

Dem Gesetz ist nach Auffassung des BFH auch kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, dass die Fiktion der Einlagenrückgewähr in Höhe von 0 € für eine Leistung der Kapitalgesellschaft gemäß § 27 Abs. 5 Satz 2 KStG und die damit einhergehende Überlagerung der Verwendungsrechnung in § 27 Abs. 1 Sätze 3 bis 5 KStG erst ab der ‑‑nach dem Ausschüttungszeitpunkt liegenden‑‑ Bekanntgabe des gesonderten Feststellungsbescheids Wirkung entfalten sollen.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 2 EStG entsteht die Kapitalertragsteuer für Gewinnausschüttungen i.S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG in dem Zeitpunkt, in dem der Kapitalertrag dem Gläubiger zufließt. § 44 Abs. 2 EStG enthält insoweit Sonderregelungen zum Zuflusszeitpunkt, die auch gelten, wenn Gewinnanteile ‑‑wie im Streitfall‑‑ an einen beherrschenden Gesellschafter ausgeschüttet werden.

Die Kapitalerträge fließen dem Gläubiger an dem Tag zu, der im Beschluss als Tag der Auszahlung bestimmt worden ist (§ 44 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ist die Ausschüttung nur festgesetzt, ohne dass über den Zeitpunkt der Auszahlung ein Beschluss gefasst worden ist, so gilt als Zeitpunkt des Zufließens der Tag nach der Beschlussfassung (§ 44 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 EStG).

Im Streitfall war die Ausschüttung am 28.07.2010 zugeflossen. Mit dem Zufluss entstanden daher am 28.07.2010 die Kapitalertragsteuer (und der Solidaritätszuschlag) für die Ausschüttung und damit auch die Pflichten, die Steuer einzubehalten, abzuführen (§ 44 Abs. 1 Satz 3 EStG) und anzumelden (§ 45a Abs. 1 i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 5 Halbsatz 2 EStG).

§ 167 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 AO begründet ein Wahlrecht der Finanzbehörde, den Entrichtungsschuldner der Kapitalertragsteuer entweder durch Haftungsbescheid gemäß § 44 Abs. 5 Satz 1 EStG oder durch Steuerbescheid (Nacherhebungsbescheid) in Anspruch nehmen zu können, wenn er seine Anmeldepflicht nicht erfüllt; die Wahl des Verfahrens muss nicht begründet werden.

§ 167 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 AO verlangt für die Nacherhebung, dass der Steuerentrichtungspflichtige seine Anmeldepflicht verletzt. Dies war im Streitfall gegeben, so dass der vom FA erlassene Nachforderungsbescheid zutreffend ergangen war.

Unterbleiben der Einbehalt, die Abführung und/oder die Anmeldung der Kapitalertragsteuer für einen abzugspflichtigen Kapitalertrag, geht § 44 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 EStG von einem schuldhaften Verhalten mit der Möglichkeit zur Exkulpation (§ 44 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 EStG) aus. Die Steuerpflichtige hatte die gesetzliche Verschuldensvermutung jedoch nicht widerlegt. Sie hatte nicht i.S. des § 44 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 2 EStG nachgewiesen, dass sie die Pflicht zur Anmeldung der Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags (sowie zu deren Einbehalt und Abführung) für die Ausschüttung weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verletzt hatte.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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