29.07.2022

Offenbare Unrichtigkeit nach § 129 AO bei fehlender Erkennbarkeit des zutreffenden Werts

Allein der Umstand, dass zur Bestimmung der zutreffenden Höhe des steuerlichen Einlagekontos nicht die mechanische Übernahme der im Jahresabschluss angegebenen Kapitalrücklage ausreicht, sondern auf einer zweiten Stufe noch weitere Sachverhaltsermittlungen zur tatsächlichen Höhe des steuerlichen Einlagekontos erforderlich sind, schließt eine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 Satz 1 AO nicht aus. Zumindest in denjenigen Fällen, in denen die offenbare Unrichtigkeit auf der versehentlichen Nichtangabe eines Werts in der Steuererklärung beruht, ist § 129 Satz 1 AO bereits dann anwendbar, wenn für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich erkennbar ist, dass die Nichtangabe fehlerhaft ist. Entsprechendes muss gelten, wenn (nur) die Angabe einer Endsumme mit 0 € erfolgt und dies erkennbar unrichtig ist.

Kurzbesprechung
BFH v. 8.12.2021 - I R 47/18

AO § 129
KStG § 27 Abs. 2, § 28 Abs. 1 Satz 3


Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen (§ 129 Satz 2 AO).

Die Berichtigungsmöglichkeit nach § 129 AO setzt grundsätzlich voraus, dass die offenbare Unrichtigkeit in der Sphäre der den Verwaltungsakt erlassenden Finanzbehörde entstanden ist. Da die Unrichtigkeit aber nicht aus dem Bescheid selbst erkennbar sein muss, ist die Vorschrift auch dann anwendbar, wenn das FA offenbar fehlerhafte Angaben des Steuerpflichtigen als eigene übernimmt.

Ob ein mechanisches Versehen oder ein die Berichtigung nach § 129 AO ausschließender Tatsachen- oder Rechtsirrtum vorliegt, muss nach den Verhältnissen des Einzelfalls beurteilt werden.

Nach den Feststellungen des FG war im Streitfall der Bescheid vom 3.6.2014 über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen gemäß § 27 Abs. 2 und § 28 Abs. 1 Satz 3 KStG zum 31.12.2012 unter Heranziehung des von der Steuerpflichtigen in Papierform eingereichten Jahresabschlusses erkennbar unrichtig. Dass ein unvoreingenommener Dritter die Angabe des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2012 mit 0 € als zutreffend ansehen könnte, war ausgeschlossen. Soweit das FG für die Korrektur nach § 129 AO darüber hinaus die Erkennbarkeit des zutreffenden Werts des steuerlichen Einlagekontos fordert, hält dies nach Auffassung des BFH unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Streitfalls einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand.

§ 129 Satz 1 AO stellt auf eine offenbare "Unrichtigkeit" bei Erlass eines Verwaltungsakts ab. Auch wenn hierfür ein mechanisches Versehen erforderlich ist, das einem Schreib- oder Rechenfehler ähnelt, bedeutet dies nicht, dass auch der zutreffende Wert ohne weitere Prüfungen erkennbar sein muss. Zumindest in denjenigen Fällen, in denen die offenbare Unrichtigkeit auf der versehentlichen Nichtangabe eines Werts in der Steuererklärung beruht, ist § 129 Satz 1 AO bereits dann anwendbar, wenn für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich erkennbar ist, dass die Nichtangabe fehlerhaft ist. Entsprechendes muss gelten, wenn (nur) die Angabe einer Endsumme mit 0 € erfolgt und dies erkennbar unrichtig ist.

Allein der Umstand, dass zur Bestimmung der zutreffenden Höhe des steuerlichen Einlagekontos der Steuerpflichtigen nicht die mechanische Übernahme der im Jahresabschluss angegebenen Kapitalrücklage i.S. des § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB ausreicht, sondern auf einer zweiten Stufe noch weitere Sachverhaltsermittlungen zur tatsächlichen Höhe des steuerlichen Einlagekontos erforderlich sind, schließt eine offenbare Unrichtigkeit i.S. des § 129 Satz 1 AO nicht aus.

Das FA hatte die offenbar unrichtigen Angaben der Steuerpflichtigen aus der Steuerklärung übernommen und das steuerliche Einlagekonto mit 0 € festgestellt. Anhaltspunkte dafür, dass das FA bei der Übernahme der Angaben der Klägerin rechtliche Überlegungen angestellt haben könnte, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Damit liegt auch auf Ebene des FA ein mechanischer Fehler vor.

Der BFH wies den Streitfall an die Vorinstanz zurück, da die vom FG festgestellten Tatsachen nicht ausreichten, um die tatsächliche Höhe des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2012 zu ermitteln.
Verlag Dr. Otto Schmidt
Zurück