18.06.2012

Polnische Saisonarbeiter können in Deutschland Anspruch auf Kindergeld haben

Das Unionsrecht hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, entsandten Arbeitnehmern oder Saisonarbeitnehmern, für die er dem Grundsatz nach nicht zuständig ist, Familienleistungen zu gewähren. Wurde von dieser Befugnis Gebrauch gemacht, verletzt eine nationale Regelung, die diese Leistungen ausschließt, wenn in einem anderen Staat eine vergleichbare Leistung zu zahlen wäre, jedoch die Freizügigkeit der Arbeitnehmer.

EuGH 12.6.2012, C-611/10 u.a.
Der Sachverhalt:
Die Kläger sind polnische Staatsangehörige, die in Polen wohnen und dort sozialversichert sind. Sie haben Kinder und arbeiten mehrere Monate im Jahr in Deutschland. Nach deutschem Recht hat eine Person ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland Anspruch auf Kindergeld, wenn sie unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist. Kindergeld wird jedoch nicht für ein Kind gezahlt, für das in einem anderen Mitgliedstaat eine vergleichbare Leistung bezogen werden kann.

Nachdem die beiden Kläger beantragt hatten, als in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt zu werden, stellte jeder in Bezug auf seine Kinder einen Antrag auf Zahlung von Kindergeld für die Dauer seiner Beschäftigung in Deutschland. Beide Anträge wurden mit der Begründung abgelehnt, dass nach der Verordnung Nr. 1408/71 das polnische und nicht das deutsche Sozialversicherungsrecht anwendbar sei.

Vor diesem Hintergrund hat der BFH beschlossen, den EuGH zu fragen, ob Deutschland, selbst wenn es nicht der zuständige Mitgliedstaat gem. der Verordnung Nr. 1408/71 ist und seine Rechtsvorschriften nicht die anwendbaren Rechtsvorschriften sind, unter diesen Umständen durch das Unionsrecht daran gehindert wird, Kindergeld zu gewähren. Darüber hinaus wollte der BFH wissen, ob ein Mitgliedstaat einen Anspruch auf Familienleistungen ausschließen darf, wenn in einem anderen Mitgliedstaat eine vergleichbare Leistung bezogen werden kann.

Die Gründe:
Es wird darauf hingewiesen, dass das Unionsrecht u.a. bezweckt, dass die Betroffenen grundsätzlich dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, so dass die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, zu vermeiden sind. Im Übrigen bleibt jeder Mitgliedstaat dafür zuständig, im Einklang mit dem Unionsrecht in seinen Rechtsvorschriften festzulegen, unter welchen Voraussetzungen die Leistungen eines Systems der sozialen Sicherheit gewährt werden.

Allein der Umstand, dass die Kläger durch die Ausübung ihres Rechts auf Freizügigkeit weder ihre Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verloren noch geringere Leistungen erhalten haben, da sie ihre Ansprüche auf Familienleistungen in Polen behalten haben, nimmt einem nicht zuständigen Mitgliedstaat nicht die Möglichkeit, solche Leistungen zu gewähren. Eine Auslegung der Verordnung dahin, dass diese einem Mitgliedstaat verbietet, Arbeitnehmern sowie deren Familienangehörigen in Fällen wie denen der Ausgangsverfahren einen weiter gehenden sozialen Schutz zu gewähren, als sich aus der Anwendung dieser Verordnung ergibt, ginge über deren Ziel hinaus und stünde außerhalb der Zwecke und des Rahmens des Vertrags.

Daraus kann gefolgert werden, dass eine Auslegung der Verordnung, die es einem Mitgliedstaat erlaubt, Familienleistungen in einer Situation wie der der vorliegenden Fälle zu gewähren, nicht ausgeschlossen werden kann, weil sie zur Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen der Wanderarbeitnehmer beizutragen vermag, indem diesen ein weiter gehender sozialer Schutz gewährt wird, als sich aus der Anwendung dieser Verordnung ergibt. Diese Auslegung hat somit an dem Zweck dieser Vorschriften teil, der darin besteht, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erleichtern.

Eine Antikumulierungsregel des nationalen Rechts - soweit sie offenbar nicht zu einer Kürzung des Betrags der Leistung für Kinder wegen einer vergleichbaren Leistung in einem anderen Staat, sondern zu deren Ausschluss führt - kann einen erheblichen Nachteil darstellen, der faktisch eine weitaus größere Zahl Wanderarbeitnehmer als sesshafter Arbeitnehmer beeinträchtigt, was zu prüfen allerdings Sache des nationalen Gerichts ist.

Ein solcher Nachteil erscheint umso weniger gerechtfertigt, als die im Ausgangsverfahren beanspruchte Leistung aus Steuereinnahmen finanziert wird und die Kläger nach den deutschen Rechtsvorschriften aufgrund des Umstands, dass sie in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig waren, einen Anspruch auf diese Leistung haben. Folglich steht ein solcher Nachteil auch dann in Widerspruch zu den Anforderungen des Unionsrechts auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, wenn er sich durch die Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten erklären lässt, die trotz der vom Unionsrecht vorgesehenen Koordinierungsregeln weiterhin bestehen.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 74 v. 12.6.2012
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