25.03.2021

Rücknahme der Gestattung der sog. Ist-Besteuerung im Gründungsjahr

Der für die Gestattung der sog. Ist-Besteuerung maßgebende Gesamtumsatz (§ 20 Satz 1 Nr. 1 UStG) ist nach den voraussichtlichen Verhältnissen des Gründungsjahres zu bestimmen, wenn der Unternehmer seine unternehmerische Tätigkeit erst im laufenden Jahr begonnen hat. Für diese Prognose ist ein Gesamtumsatz nach den Grundsätzen der sog. Soll-Besteuerung zu schätzen.
§ 130 Abs. 2 Nr. 3 AO enthält ermessenslenkende Vorgaben; eine abwägende Stellungnahme des Finanzamts zur Rücknahme des durch falsche Angaben erwirkten rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts ist nicht erforderlich, wenn der Begünstigte von der Unrichtigkeit seiner Angaben wusste oder zumindest hätte wissen können und müssen.

Kurzbesprechung
BFH v. 11.11.2020 - XI R 41/18

UStG § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a S 4, § 16 Abs. 1 S. 1, § 18 Abs. 2 S. 4, § 19 Abs. 3 S. 3 u. 4, § 20 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 20 Abs. 2
UStDV § 47 Abs. 3,
AO § 5, § 130 Abs. 1, § 130 Abs. 2 Nr. 3, § 130 Abs. 2 Nr. 4, § 148


Die Gestattung nach § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 UStG a.F. (seit dem 01.01.2012: § 20 Satz 1 Nr. 1 UStG), die Steuer nicht nach den vereinbarten, sondern nach den vereinnahmten Entgelten zu berechnen, ist ein Verwaltungsakt, auf den § 130 Abs. 1 AO anwendbar ist. Rechtswidrig i.S. des § 130 Abs. 1 AO ist ein Verwaltungsakt, wenn bei seinem Erlass von einem tatsächlich nicht gegebenen Sachverhalt ausgegangen oder das im Zeitpunkt seines Erlasses geltende Recht unrichtig angewandt worden ist.

Im Streitfall war die Gestattung der Ist-Besteuerung durch das FA rechtswidrig, denn die Voraussetzungen für eine Ist-Besteuerung. waren nach der im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung bestehenden Sach- und Rechtslage von Anfang an nicht gegeben.

Das FA kann nach § 20 Satz 1 Nr. 1 UStG auf Antrag gestatten, dass der Unternehmer die Steuer nicht nach den vereinbarten Entgelten (§ 16 Abs. 1 Satz 1 UStG), sondern nach den vereinnahmten Entgelten berechnen darf (Ist-Besteuerung), wenn dessen Gesamtumsatz (§ 19 Abs. 3 UStG) im vorangegangenen Kalenderjahr nicht mehr als 500.000 € (seit dem 01.01.2020: 600.000 €) betragen hat. Dabei kommt es nicht auf die Verhältnisse des vorangegangenen, sondern auf die voraussichtlichen Verhältnisse des laufenden Kalenderjahres an, wenn der Unternehmer seine unternehmerische Tätigkeit erst in diesem Jahr aufgenommen hat.

Der BFH folgt nicht der Rechtsmeinung, dass bei jeder Unternehmensneugründung im Erstjahr stets die Voraussetzung für eine Ist-Besteuerung hinsichtlich der nach § 20 Satz 1 Nr. 1 UStG definierten Umsatzgrenze erfüllt wäre. Vielmehr ist es bei Neugründungen im Hinblick auf § 20 Satz 1 Nr. 1 UStG erforderlich, den Gesamtumsatz (§ 19 Abs. 3 UStG) bis zum 31.12. des Erstjahres zu schätzen und diesen voraussichtlichen Gesamtumsatz entsprechend § 19 Abs. 3 Satz 3 UStG auf einen für das ganze Jahr prognostizierten Gesamtumsatz hochzurechnen. Diese Schätzung hat nach den Grundsätzen der Soll - Besteuerung zu erfolgen.

Ein begünstigender Verwaltungsakt darf nur unter den weiteren Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO, der die nach § 130 Abs. 1 AO eröffnete Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts mit Wirkung für die Zukunft oder Vergangenheit einschränkt, zurückgenommen werden. Diese Voraussetzungen waren im Streitfall erfüllt.

Ein Verwaltungsakt, der --wie die Gestattung der Ist-Besteuerung-- ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), darf u.a. nur dann zurückgenommen werden, wenn ihn der Begünstigte durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren (§ 130 Abs. 2 Nr. 3 AO). Dabei müssen die Angaben des Begünstigten objektiv unrichtig oder unvollständig sein; auf ein vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln kommt es nicht an. Allerdings muss anzunehmen sein, dass das FA bei vollständiger Kenntnis des Sachverhalts den begünstigenden Verwaltungsakt nicht bzw. so nicht erlassen hätte. Deshalb müssen die unrichtigen oder unvollständigen Angaben für den Erlass des begünstigenden Verwaltungsakts von entscheidungserheblicher Bedeutung sein.

Im Streitfall war die Angabe, dass die geschätzte Summe der Umsätze für das Jahr der Betriebseröffnung 30.000 € betrage, unzutreffend. Hierfür gab es keine Grundlage. Diese Angabe war für die Gestattung auch ursächlich, weil das FA die Gestattung bei vollständiger Kenntnis des Sachverhalts nicht erteilt hätte.

Die Entscheidung über die Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts ist nach dem Wortlaut des § 130 Abs. 1 AO ("kann") eine Ermessensentscheidung der Finanzbehörde i.S. des § 5 AO, die grundsätzlich nur eingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung unterliegt (§§ 102, 121 FGO).

§ 130 Abs. 2 Nr. 3 AO enthält --wie auch § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO jedoch ermessenslenkende Vorgaben (sog. intendiertes Ermessen). Sie "intendiert" die Rücknahme des durch falsche Angaben erwirkten rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts dann, wenn der Begünstigte von der Unrichtigkeit seiner Angaben wusste oder zumindest hätte wissen können und müssen. In diesem Fall ist die Rücknahme die nicht begründungsbedürftige Rechtsfolge des § 130 Abs. 1 i.V.m. § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO; eine abwägende Stellungnahme des FA zur Rücknahme des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts ist insoweit nicht erforderlich.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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