11.08.2022

Wann liegt eine vollendete Steuerhinterziehung bei Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung vor?

Liegt ein objektiver Verkürzungstatbestand vor, wenn pflichtwidrig keine Steuererklärung abgegeben wird, dem Finanzamt aber alle erforderlichen Informationen in Form elektronischer Lohnsteuerbescheinigungen vorliegen? Zu der hier streitentscheidenden Frage liegt noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vor, weshalb die Revision zum BFH zugelassen wurde.

FG Münster v. 24.6.2022, 4 K 135/19 E
Der Sachverhalt:
Anfang 2018 hatte das Finanzamt eine durch die Oberfinanzdirektion übersandte eDaten-Prüfliste bearbeitet. Hierbei fiel auf, dass mit der Aufnahme der nichtselbständigen Tätigkeit durch die Klägerin in 2009 ein Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung erfolgt war und die Kläger daher ab 2009 verpflichtet waren, Einkommensteuererklärungen einzureichen. Daraufhin leitete das Finanzamt für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung ein Strafverfahren hinsichtlich der Jahre 2011 bis 2016 ein. Für die Streitjahre 2009 und 2010 wurde kein Strafverfahren eingeleitet, da insoweit von einer strafrechtlichen Verjährung ausgegangen wurde. Das Strafverfahren für die Jahre 2011 bis 2016 wurde gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt.

Im Juni 2018 erließ das beklagte Finanzamt Bescheide über Einkommensteuer und Verspätungszuschlag für 2009 und 2010. In den Erläuterungen führte die Behörde aus, dass die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden seien. Die Kläger hätten trotz Aufforderung keine Steuererklärungen abgegeben. Die Verspätungszuschläge seien wegen Nichtabgabe der Steuererklärungen festgesetzt worden.

Die Kläger waren der Ansicht, dass für 2009 und 2010 Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Sie, die Kläger, hätten sich nicht wegen vollendeter Steuerhinterziehung strafbar gemacht. Sie hätten nicht vorsätzlich gehandelt. Hinweise auf eine Steuererklärungspflicht hätten sie nicht zur Kenntnis genommen. Im Übrigen hätte der Beklagte keine jährlichen Aufforderungsschreiben an die Kläger versandt. Vor diesem Hintergrund baten sie auch um eine Überdenkung des Ermessens zur Festsetzung der Verspätungszuschläge.

Das Finanzamt wies die Einsprüche zurück. Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt. Allerdings wurde die Revision zum BFH zugelassen.

Die Gründe:
Hinsichtlich der Einkommensteuer für 2009 und 2010 liegt keine vollendete Steuerhinterziehung durch die Kläger vor. Demzufolge gilt die regelmäßige Festsetzungsfrist von vier Jahren und keine verlängerte Festsetzungsfrist. Bei Erlass der streitgegenständlichen Bescheide in 2018 war die jeweils geltende Festsetzungsfrist bereits abgelaufen.

Eine Steuerfestsetzung ist nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Für die Einkommensteuer beträgt die Festsetzungsfrist regelmäßig vier Jahre. Sie beträgt zehn Jahre, soweit eine Steuer hinterzogen, und fünf Jahre, soweit sie leichtfertig verkürzt worden ist. Die Festsetzungsfrist beginnt grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist. Hiervon abweichend beginnt die Festsetzungsfrist, wenn eine Steuererklärung einzureichen ist, mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahrs, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist. Im Streitfall begann die Festsetzungsfrist für 2009 am 31.12.2012 und für 2010 am 31.12.2013. Die Kläger hatten (pflichtwidrig) keine Einkommensteuererklärungen für diese Jahre eingereicht. Die Festsetzungsfrist beträgt für beide Streitjahre vier Jahre. Demzufolge lief die Festsetzungsfrist für 2009 am 31.12.2016 und für 2010 am 31.12.2017 ab.

Vorliegend gilt weder für 2009 noch für 2010 eine auf zehn oder fünf Jahre verlängerte Festsetzungsfrist. Es liegt weder eine Steuerhinterziehung noch eine leichtfertige Steuerverkürzung vor. Ob eine Steuerhinterziehung oder leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt, bestimmt sich auch bei Prüfung der Festsetzungsverjährung nach §§ 370, 378 AO. Hinterzogen sind die Beträge, für die der objektive und subjektive Tatbestand des § 370 AO, leichtfertig verkürzt die Beträge, für die der objektive und subjektive Tatbestand des § 378 AO erfüllt ist. § 378 AO setzt hinsichtlich der Tathandlung die Verwirklichung einer Tatbestandsvariante des § 370 AO voraus.

Vorliegend ist der hier allein in Betracht kommende objektive Tatbestand der Unterlassungsvariante nicht erfüllt. Der objektive Tatbestand der hier allein in Betracht kommenden Unterlassungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO setzt voraus, dass der Steuerpflichtige die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. Im Streitfall haben die Kläger die für ihre Einkommensteuerveranlagung zuständige Finanzbehörde nicht über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen. Die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen waren mit der gemeinsamen Steuernummer der verheirateten Kläger konkret verknüpft und ihr tatsächlich zugeordnet. Sie waren in einer Übersicht über elektronische Bescheinigungen abrufbar.

Entgegen der Auffassung des Finanzamtes liegt nicht bereits deshalb eine vollendete Steuerhinterziehung durch die Kläger vor, weil sie es nach dem Wechsel von der Antrags- zur Pflichtveranlagung unterlassen haben, Einkommensteuererklärungen für 2009 und 2010 einzureichen. Zwar waren sie hierzu verpflichtet. Allerdings reicht allein eine Verletzung von Erklärungspflichten nicht aus, um den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO zu verwirklichen.

Die Revisionszulassung folgt aus § 115 Abs. 2 FGO. Zu der hier streitentscheidenden Frage liegt noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vor.

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