03.05.2018

Zum Prüfungsmaßstab bei gerügtem Verstoß gegen den gesetzlichen Richter durch Nichtvorlage an den EuGH

Die Auslegung und Anwendung des Art. 267 Abs. 3 AEUV durch ein letztinstanzliches Gericht verletzt nur dann Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn sie bei verständiger Würdi-gung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Die Beurteilung, ob die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, so dass davon abgesehen werden kann, dem EuGH eine vor ihm aufgeworfene Frage nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, obliegt allein dem nationalen Gericht.

Kurzbesprechung
BFH v. 7.2.2018 - XI K 1/17

FGO § 134
ZPO § 579 Abs. 1 Nr. 1
GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2
AEUV Art. 267 Abs. 3

Der Steuerpflichtige ist Krankenpfleger und seit dem Jahr 2003 Organträger einer GmbH, deren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer er war. Die GmbH erbrachte in den Streitjahren (2005 und 2006) Leistungen der sog. 24-Stunden-Pflege aufgrund von Versorgungsverträgen mit verschiedenen Pflegekassen, mit Verbänden von Krankenkassen, mit der Bundesknappschaft sowie mit der Stadt als Sozialhilfeträger.

In den Jahren 2004 bis 2006 wurde unstreitig die für eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG in der für die Streitjahre (2005 und 2006) geltenden Fassung (a.F.) erforderliche 40 % Grenze von der GmbH nicht erreicht. Das FA vertrat die Auffassung, dass die Umsätze der GmbH nicht nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. steuerfrei seien, da die nach dieser Vorschrift erforderliche 40 % Grenze für das jeweilige Vorjahr nicht erreicht worden sei.

Diese Rechtsauffassung bestätigte der BFH im Revisionsverfahren mit Urteil v. 28.6.2017 - XI R 23/14 und entschied, dass die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 UStG in den Streitjahren nicht gegeben gewesen seien.

Hiergegen richtet sich die Nichtigkeitsklage des Steuerpflichtigen, mit der er den Wiederaufnahmegrund der vorschriftswidrigen Besetzung des Senats i.S. des § 579 Abs. 1 Nr.1 ZPO, § 134 FGO geltend macht. Der Senat habe seine Verpflichtung verletzt, Rechtsfragen dem EuGH und dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes vorzulegen, und ihn dadurch seinem gesetzlichen Richter entzogen.

Dies sieht der BFH jedoch anders und entschied, dass das Verfahren nicht wiederaufzuneh-men ist.

Eine Verletzung des gesetzlichen Richters durch Nichtvorlage setzt voraus, dass das Gericht seine Verpflichtung zur Vorlage willkürlich außer Acht gelassen hat. Das BVerfG beanstandet die Auslegung und Anwendung von Normen, die - wie Art. 267 Abs. 3 AEUV - die gerichtliche Zuständigkeitsverteilung regeln, nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind. Dabei kommt es für die Prüfung einer Verletzung des gesetzlichen Richters nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts an, sondern auf die Vertretbarkeit der Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV an.

Nach der Rechtsprechung des EuGH muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Anwendung des Uni-onsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt.

Dabei bleibt die Beurteilung, ob die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, allein dem nationalen Gericht überlassen. Insbesondere darf das nationale Gericht trotz einer abweichenden Entscheidung der Vorinstanz davon absehen, dem EuGH eine vor ihm aufgeworfene Frage nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen. Wenn allerdings auf Unionsebene die Gefahr von Divergenzen besteht, bedarf es einer Vorlage durch das nationale Gericht.

Im Streitfall hatte der Senat die Vorlagepflicht nicht grundsätzlich verkannt. Vielmehr ist er - nach Auswertung der Rechtsprechung des EuGH - davon ausgegangen, dass der EuGH die 40% Grenze des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F. als zulässig ansieht, sofern für alle Marktteilnehmer gleiche Wettbewerbsbedingungen gelten. Der Senat hat die Rechtslage insoweit als geklärt angesehen und gerade keine eigenständige Fortentwicklung des Unionsrechts bei zweifelhafter Rechtslage vorgenommen.

BFH, Urteil vom 7.2.2018, XI K 1/17, veröffentlicht am 25.4.2018

Verlag Dr. Otto Schmidt
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