19.05.2022

Zur Beendigung der Anlaufhemmung im Fall der Abgabe der Einkommensteuererklärung beim unzuständigen Finanzamt

1. Wird die Einkommensteuererklärung bei einem unzuständigen Finanzamt eingereicht, endet die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO grundsätzlich erst dann, wenn die zuständige Behörde die Erklärung erhalten hat.
2. Nur ausnahmsweise kann auch die Abgabe der Einkommensteuererklärung bei einem unzuständigen Finanzamt genügen, um die Anlaufhemmung zu beenden. Dies ist der Fall, wenn das unzuständige Finanzamt seine Fürsorgepflicht gemäß § 89 AO verletzt, indem es die Erklärung lediglich zu den Akten nimmt, obwohl ihm seine eigene Unzuständigkeit ebenso bekannt ist wie die zuständige Behörde. Verletzt die Behörde ihre Fürsorgepflicht, ist der Steuerpflichtige im Rahmen des rechtlich Zulässigen so zu stellen, als wäre der Verstoß nicht passiert.

Kurzbesprechung
BFH v. 14. 12. 2021 - VIII R 31/19

AO § 170 Abs 2 S 1 Nr. 1, § 169 Abs 1, § 150, § 89
EStG § 25 Abs 3


Gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung nicht mehr zulässig, wenn die ‑‑wie im Streitfall‑‑ vierjährige Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) abgelaufen ist. Die Festsetzungsfrist beginnt im Regelfall gemäß § 170 Abs. 1 AO mit dem Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist. Abweichend hiervon beginnt die Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO u.a. in den Fällen, in denen eine Steuererklärung einzureichen ist, mit dem Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuererklärung eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahrs, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist.

Im Streitfall richtete sich der Lauf der Festsetzungsfrist nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO, denn der Steuerpflichtige hatte eine Einkommensteuererklärung für das Streitjahr einzureichen. Aufgrund der eingereichten Unterlagen war es für die Finanzbehörden auch möglich, ein ordnungsgemäßes Veranlagungsverfahren in Gang zu setzen und die Einkommensteuerveranlagung des Streitjahrs für den Steuerpflichtigen als Insolvenzverwalter über den Nachlass des Insolvenzschuldners vorzunehmen.

Dass die Einkommensteuererklärung an ein örtlich unzuständiges FA gerichtet und dort eingereicht worden ist, hinderte den Anlauf der Festsetzungsfrist gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO unter Beachtung der besonderen Umstände des Streitfalls ausnahmsweise nicht.

Eine Steuererklärung i.S. des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO ist eingereicht, wenn eine wirksame Erklärung an die zuständige Finanzbehörde übermittelt worden ist. Wird die Steuererklärung bei einer unzuständigen Finanzbehörde eingereicht, wird die Anlaufhemmung erst beendet, wenn die zuständige Behörde die Erklärung erhält. Denn erst dann ist diese in der Lage, tätig zu werden und die Veranlagung innerhalb der gesetzlichen Frist durchzuführen.

Das FG hatte jedoch zutreffend entschieden, dass es die besonderen Umstände des Streitfalls rechtfertigen, die Abgabe der Einkommensteuererklärung bei dem für die Einkommensteuerveranlagung unzuständigen FA genügen zu lassen, um die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO zu beenden. Denn das dieses hatte seine Fürsorgepflicht (vgl. § 89 Abs. 1 AO) gegenüber dem Steuerpflichtigen schwerwiegend verletzt, indem es die eingereichte Einkommensteuererklärung für das Streitjahr zu den Akten genommen hatte, ohne diese zeitnah an das bekanntermaßen zuständige FA weiterzuleiten oder den Steuerpflichtigen zumindest darüber zu informieren, dass keine entsprechende Weiterleitung der Einkommensteuererklärung erfolgt ist.

Der Steuerpflichtige ist daher so zu stellen, als wäre der Verstoß nicht passiert. Dieses Verschulden musste sich das FA zurechnen lassen, denn es lag ein behördeninternes Organisationsverschulden der Finanzverwaltung vor. Aufgrund des Verstoßes gegen die Fürsorgepflicht ist der Steuerpflichtige im Rahmen des rechtlich Zulässigen so zu stellen, als wäre der Verstoß nicht passiert.

Der Steuerpflichtige ist daher so zu behandeln, als habe das unzuständige FA die Einkommensteuererklärung an das zuständige FA weitergeleitet und dieses damit in die Lage versetzt, die Einkommensteuerveranlagung für das Streitjahr durchzuführen. Dies hat zur Folge, dass die vierjährige Festsetzungsfrist bereits abgelaufen war, so dass ein Steuerbescheid nicht mehr ergehen durfte.
Verlag Dr. Otto Schmidt
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