07.09.2012

Zur Mehrwertsteuerbefreiung bei innergemeinschaftlichen Lieferungen

Einem Unternehmen, das Waren mit Bestimmungsort in einem anderen Mitgliedstaat verkauft hat, kann die Mehrwertsteuerbefreiung versagt werden, wenn es nicht nachgewiesen hat, dass es sich dabei um ein innergemeinschaftliches Geschäft handelte. Hat das Unternehmen diesen Nachweis hingegen erbracht und in gutem Glauben gehandelt, darf ihm die Mehrwertsteuerbefreiung nicht mit der Begründung versagt werden, der Käufer habe die Waren nicht an einen Ort außerhalb des Versandstaats befördert.

EuGH 6.9.2012, C-273/11
Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist eine ungarische Gesellschaft, zu deren Kerngeschäft der Großhandel mit Getreide, Tabak, Saatgut und Futtermitteln gehört. Im August 2009 hatte sie an eine italienische Gesellschaft - die zu diesem Zeitpunkt über eine Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer verfügte - 1000 Tonnen Raps, der laut Kaufvertrag von der Käuferin in einen anderen Mitgliedstaat zu befördern war, verkauft. Die Ware wurde der Käuferin auf dem Betriebsgelände der Klägerin in Ungarn übergeben. Die Käuferin übersandte der Klägerin von einer italienischen Postanschrift aus mehrere CMR-Frachtbriefe, die belegten, dass der Raps an einen Ort außerhalb Ungarns befördert worden war.

Für dieses Geschäft stellte die Klägerin zwei Rechnungen aus. In der Annahme, es handele sich um einen in Ungarn von der Mehrwertsteuer befreiten innergemeinschaftlichen Umsatz stellte sie der Käuferin die Mehrwertsteuer nicht in Rechnung und führte sie nicht an die ungarische Steuerverwaltung ab. Später stellte die italienische Steuerverwaltung jedoch fest, dass die Käuferin unauffindbar war und in Italien nie Mehrwertsteuer abgeführt hatte. Infolgedessen wurde die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer rückwirkend im Register gelöscht.

Unter diesen Umständen ging die ungarische Steuerverwaltung davon aus, dass der Klägerin verkaufte Raps nie in einen anderen Mitgliedstaat befördert worden sei und das fragliche Geschäft keine mehrwertsteuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen darstelle. Sie zog die Klägerin daher zur Entrichtung der Mehrwertsteuer für dieses Geschäft heran und verhängte eine Geldbuße sowie einen Verspätungszuschlag gegen sie.

Auf die hiergegen gerichtete Klage setzte das Komitatsgericht das Verfahren aus und ersuchte den EuGH um Klärung, welche Beweise hinreichend sind, um das Vorliegen einer mehrwertsteuerbefreiten Lieferung von Gegenständen nachzuweisen. Außerdem wollte es wissen, in welchem Ausmaß der Verkäufer, wenn er die Beförderung nicht selbst übernimmt, für das rechtswidrige Handeln des Käufers verantwortlich gemacht werden kann, wenn nicht nachgewiesen ist, dass die verkauften Waren im Bestimmungsmitgliedstaat angekommen sind.

Die Gründe:
Für die Mehrwertsteuerbefreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung eines Gegenstands muss erstens das Eigentumsrecht an dem Gegenstand auf den Käufer übertragen worden sein. Zweitens muss der Verkäufer nachweisen, dass der Gegenstand in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert wurde. Drittens muss der Gegenstand den Versandmitgliedstaat aufgrund dieses Versands oder dieser Beförderung physisch verlassen haben.

Die erste Voraussetzung war im vorliegenden Fall erfüllt. In Ermangelung einer konkreten Bestimmung in der Mehrwertsteuerrichtlinie waren die weiteren Nachweispflichten nach nationalem Recht und der für ähnliche Geschäfte üblichen Praxis zu bestimmen. Ein Mitgliedstaat kann vom Steuerpflichtigen jedoch nicht verlangen, den zwingenden Nachweis dafür zu erbringen, dass die Ware diesen Mitgliedstaat physisch verlassen hat. Die Mehrwertsteuerrichtlinie gestattet es den Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit einer innergemeinschaftlichen Lieferung, dem Verkäufer einen Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung zu versagen, wenn er seinen Nachweispflichten nicht nachkommt. Im vorliegenden Fall muss das ungarische Gericht somit prüfen, ob die Klägerin den Nachweispflichten nachgekommen war, die ihr nach ungarischem Recht und der üblichen Praxis oblagen.

Außerdem hängt der Nachweis, den der Verkäufer gegenüber den Steuerbehörden führen kann, wenn der Käufer im Versandmitgliedstaat die Befähigung hat, über den betreffenden Gegenstand wie ein Eigentümer zu verfügen, und sich verpflichtet, den Gegenstand in den Bestimmungsmitgliedstaat zu befördern, wesentlich von den Angaben ab, die er zu diesem Zweck vom Käufer erhält. Infolgedessen kann der Verkäufer, wenn er seinen Nachweispflichten nach nationalem Recht und der gängigen Praxis nachgekommen ist, nicht im Liefermitgliedstaat zur Mehrwertsteuer herangezogen werden, wenn der Käufer seine vertragliche Verpflichtung, diese Gegenstände an Orte außerhalb dieses Staates zu versenden oder zu befördern, nicht erfüllt hat. Unter solchen Umständen ist es nämlich der Käufer, der im Liefermitgliedstaat zur Mehrwertsteuer heranzuziehen.

Dem Verkäufer kann die Mehrwertsteuerbefreiung für ein innergemeinschaftliches Geschäft allerdings nicht gewährt werden, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass dieses Geschäft mit einer Steuerhinterziehung des Käufers verknüpft war, und er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um diese zu verhindern. Der Klägerin konnte wiederum nicht der Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung allein deshalb versagt werden, weil die italienische Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des Käufers rückwirkend im Steuerpflichtigen-Register gelöscht worden war. Denn Unregelmäßigkeiten des Registers, dessen Verwaltung den nationalen Behörden obliegt, können nicht zu Lasten eines Steuerpflichtigen gehen, der sich auf die Angaben in diesem Register gestützt hat.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 111 v. 6.9.2012
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