08.07.2025

Anforderungen an Rücktritt und Anfechtung bei Tele-Underwriting

Ein "akustischer Zugang" der Antragsfragen bereits während des telefonischen Antragsgesprächs ist nur anzunehmen, wenn dem Antragsteller die Antragsfragen vorgelesen worden sind. Um die Einlassung des Antragstellers zu widerlegen genügt es nicht, die Angaben substantiiert zu bestreiten bzw. durch Indizien zu erschüttern, vielmehr muss der Versicherer einen entsprechenden Vollbeweis erbringen.

OLG Frankfurt a.M. 6.6.2025 - 7 U 20/23
Der Sachverhalt:
Der 1964 geborene Kläger ist gebürtiger Mexikaner, der im Alltag seine Muttersprache Spanisch und daneben Englisch spricht. Er war seit März 2006 in Teilzeit als Reinigungskraft tätig. Er hatte am 18.10.2012 in einem telefonischen Antragsgespräch (sog. Tele-Underwriting) unter Beteiligung eines Ausschließlichkeitsvermittlers bei der Beklagten eine Berufsunfähigkeitsversicherung beantragt. Sein Lebensgefährte übersetzte dabei für beide Seiten. Der Mitarbeiter der Beklagten füllte den Antrag aus und kreuzte für sämtliche Gesundheitsfragen die Antwortmöglichkeit "nein" an, insbesondere auch bei der Frage nach dem Bestehen von Krankheiten, Unfallfolgen oder körperlichen Schäden zum Zeitpunkt der Antwort oder in den letzten 5 Jahren.

Im Zeitraum vor und nach der Antragstellung war der Kläger häufig in ärztlicher Behandlung u.a. wegen depressiver Episoden, Rücken- und Gelenkschmerzen. Mit ärztlichem Schreiben vom 30.8.2013 wurde dem Kläger eine beidseitige Daumensattelgelenksarthrose (Rhizarthrose) bestätigt und ihm empfohlen, die auslösenden Bewegungen wie das Heben schwerer Dinge zu reduzieren oder zu vermeiden. Am 13.6.2017 wurde bei ihm überdies eine rechtsseitige Meniskopathie diagnostiziert. Der Kläger meldete daraufhin Leistungsansprüche bei der Beklagten an. Diese lehnte ihre Eintrittspflicht ab und erklärte den Rücktritt vom Vertrag mit der Begründung, der Kläger habe seine vorvertraglichen Anzeigepflichten verletzt.

Der Kläger behauptete, nicht in der Absicht gehandelt zu haben, die Beklagte über seinen Gesundheitszustand zu täuschen. Der Mitarbeiter habe ihn lediglich gefragt, ob er an Erkrankungen leide, ohne dabei auf einen 5-Jahreszeitraum vor Antragstellung Bezug zu nehmen. Der Kläger sei daher davon ausgegangen, dass nach etwaigen schweren aktuellen Erkrankungen gefragt werde, was er verneint habe. Die Rückenbeschwerden und die mittelgradige depressive Episode habe er nicht angegeben, da er diesen keine Bedeutung beigemessen habe.

Das LG hat das Fortbestehen der Versicherung festgestellt und die Beklagte zur Zahlung rückständiger Berufsunfähigkeitsleistungen sowie künftiger Rentenzahlung und Beitragsbefreiung verurteilt. Es war der Ansicht, der Vertrag sei nicht wirksam angefochten worden. Das OLG hat die Entscheidung im Berufungsverfahren bestätigt.

Die Gründe:
Die Beklagte hat sich nicht wirksam durch Rücktritt oder Anfechtung vom Vertrag lösen können.

Die Beklagte konnte schon nicht wirksam gem. §§ 19 Abs. 2, 21 Abs. 1 VVG vom Vertrag zurücktreten, da es an einer unrichtigen Beantwortung ordnungsgemäß gestellter, hier: formularmäßiger, Antragsfragen fehlte. Sie konnte nicht beweisen, dass ein mit einer hinreichenden Möglichkeit der Kenntnisnahme verbundener Zugang der Gesundheitsfragen beim Antragsteller akustisch bzw. in der erforderlichen Textform (§ 19 Abs. 1 VVG) bewirkt worden war. Ein "akustischer Zugang" der Antragsfragen bereits während des Antragsgesprächs war nicht erfolgt. Dies wäre nur anzunehmen gewesen, wenn dem Kläger die Antragsfragen vorgelesen worden wären. Das LG hat hierzu eine non liquet Entscheidung getroffen. Die Feststellungen sind gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO für das Berufungsgericht bindend. Die Beweiswürdigung war weder unvollständig noch widersprüchlich, noch verstieß sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze oder ließ wesentliche Teile des Beweisergebnisses unberücksichtigt.

Ein Rücktritt schied somit mangels ordnungsgemäßen Stellens formgerechter Antragsfragen aus, sodass es auf die Verschuldensfrage nicht ankam. Auf etwaige Falschangaben im Antragsformular ließ sich daher auch die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nicht stützen, da zum einen nicht nachgewiesen wurde, dass die Fragen mündlich überhaupt gestellt waren, zum anderen nicht nachgewiesen wurde, dass der Kläger hinreichend von den schriftlichen Fragen Kenntnis genommen hatte und auf diese Möglichkeit ausreichend hingewiesen worden war, sodass sich jedenfalls in subjektiver Hinsicht Arglist nicht feststellen ließ.

Die Beklagte konnte sich aber auch nicht wirksam durch Täuschungsanfechtung gem. § 22 VVG i.V.m. § 123 Abs. 1 Var. 1 BGB vom Vertrag lösen, weil der Kläger die Pauschalfrage, ob er gesund bzw. krank sei, falsch beantwortet hätte. Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass der Kläger das subjektive Merkmal der "Arglist" erfüllt hatte. Zwar waren die Pauschalfrage objektiv wahrheitswidrig beantwortet. Nicht erwiesen war jedoch, dass der Kläger bei seiner falschen Angabe arglistig gehandelt hatte. Der Kläger ist insofern seiner sekundären Darlegungslast, wie es zu der Falschangabe gekommen ist, nachgekommen. Der Beklagten ist es demgegenüber nicht gelungen, die Einlassung zu widerlegen. Hierzu genügt es nicht, die Angaben des Klägers substantiiert zu bestreiten bzw. durch Indizien zu erschüttern, vielmehr hätte die Beklagte den entsprechenden Vollbeweis erbringen müssen.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung
Unzureichender Nachweis stationärer Behandlungskosten durch Übersendung eines "Grouper-Ausdrucks" an den Haftpflichtversicherer
OLG Stuttgart vom 19.12.2023 - 12 U 17/23
VersR 2024, 716
VERSR0066262

Beratermodul VersR - Zeitschrift für Versicherungsrecht
Otto Schmidt Answers optional dazu buchen und die KI 4 Wochen gratis nutzen! Die Answers-Lizenz gilt für alle Answers-fähigen Module, die Sie im Abo oder im Test nutzen. Mit dem Beratermodul VersR haben Sie Zugriff auf das Archiv der Zeitschrift VersR seit 1970 mit jeweils 24 Ausgaben pro Jahr. 4 Wochen gratis nutzen!

Beratermodul IT-Recht
Otto Schmidt Answers optional dazu buchen und die KI 4 Wochen gratis nutzen! Die Answers-Lizenz gilt für alle Answers-fähigen Module, die Sie im Abo oder im Test nutzen. Hier das informative Rezensions- und Anwendungsvideo von RA Michael Rohrlich und Marc Oliver Thoma ansehen! Bearbeiten Sie zahlreiche bewährte Formulare mit LAWLIFT! 4 Wochen gratis nutzen!
LaReDa Hessen