22.10.2013

Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs für Unternehmen im Bereich Elektrizität und Erdgas können mit Europarecht im Einklang stehen

Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs, die auf den Märkten für Elektrizität und Erdgas tätige Unternehmen betreffen, können mit dem Europarecht im Einklang stehen. In diesem Zusammenhang stellen die Ziele, zum Schutz der Verbraucher einen unverfälschten Wettbewerb aufrechtzuerhalten und die Sicherheit der Energieversorgung zu gewährleisten, zwingende Gründe des Allgemeininteresses dar

EuGH 22.10.2013, C-105/12 u.a.
Hintergrund:
Nach Richtlinien aus dem Jahr 2003 soll das Unionsrecht im Bereich des Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkts u.a. einen offenen und transparenten Markt, einen nichtdiskriminierenden und transparenten Zugang zum Netz des Verteilernetzbetreibers sowie einen fairen Wettbewerb gewährleisten. Nach neueren niederländischen Rechtsvorschriften darf ein privater Investor keine Anteile an einem im niederländischen Hoheitsgebiet tätigen Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber oder Beteiligungen an dessen Kapital erwerben oder halten ("Privatisierungsverbot").

Außerdem sind Beteiligungen oder Beherrschungsverhältnisse zwischen Gesellschaften eines Konzerns, dem ein solcher Betreiber angehört, und Gesellschaften eines Konzerns, dem ein Unternehmen angehört, das im niederländischen Hoheitsgebiet Elektrizität oder Gas erzeugt, liefert oder vertreibt, verboten ("Konzernverbot"). Schließlich verbietet das nationale Recht auch, dass ein Verteilernetzbetreiber oder der Konzern, dem er angehört, Handlungen oder Tätigkeiten vornimmt, die dem Interesse des betreffenden Netzbetriebs zuwiderlaufen könnten.

Der Sachverhalt:
Zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Rechtsvorschriften waren Essent, Eneco und Delta vertikal integrierte Unternehmen, die im niederländischen Hoheitsgebiet sowohl im Bereich der Erzeugung, der Lieferung und/oder des Vertriebs von Elektrizität und/oder Gas als auch im Bereich des Betriebs und der Bewirtschaftung von Elektrizitäts- und/oder Gasverteilernetzen tätig waren. Infolge des Erlasses der Rechtsvorschriften, mit denen das Privatisierungsverbot, das Konzernverbot und das Verbot von dem Interesse des Netzbetriebs potenziell zuwiderlaufenden Tätigkeiten eingeführt wurden, wurde die Essent NV am 1.7.2009 in zwei verschiedene Gesellschaften aufgespalten.

Zum einen die Enexis Holding NV, deren Gesellschaftszweck der Betrieb eines Gas- und Elektrizitätsverteilernetzes im niederländischen Hoheitsgebiet ist und deren sämtliche Anteile von der öffentlichen Hand gehalten werden, und zum anderen die Essent NV, deren Gesellschaftszweck die Erzeugung, die Lieferung und der Vertrieb von Elektrizität und Gas ist. Die letztgenannte Gesellschaft wurde von der Tochtergesellschaft eines deutschen Energiekonzerns, der RWE AG, aufgekauft. Die Eneco Holding NV und die Delta NV wurden nicht aufgespalten, sondern bestimmten jeweils ihre Tochtergesellschaften Stedin Netbeheer BV und Delta Netwerkbedrijf BV als Betreiber ihrer Verteilernetze.

Vor diesem Hintergrund riefen Essent, Eneco und Delta die nationalen Gerichte an, weil sie die nationalen Rechtsvorschriften für mit dem freien Kapitalverkehr unvereinbar halten. Der als letztinstanzliches niederländisches Gericht mit dem Rechtsstreit befasste Hoge Raad der Nederlanden beschloss, sich in dieser Frage an den Gerichtshof zu wenden.

Die Gründe:
Das Privatisierungsverbot - das u.a. besagt, dass kein privater Investor Anteile an einem im niederländischen Hoheitsgebiet tätigen Elektrizitäts- oder Gasverteilernetzbetreiber erwerben oder sich an dessen Kapital beteiligen kann - fällt unter Art. 345 AEUV. Diese Vorschrift bringt den Grundsatz der Neutralität der Verträge gegenüber der Eigentumsordnung in den Mitgliedstaaten zum Ausdruck und erlaubt es den Mitgliedstaaten, das Ziel zu verfolgen, für bestimmte Unternehmen eine Zuordnung des Eigentums in öffentliche Trägerschaft einzuführen oder aufrechtzuerhalten. Art. 345 AEUV führt jedoch nicht dazu, dass die in den Mitgliedstaaten bestehenden Eigentumsordnungen den Grundprinzipien des AEUV, u.a. denen der Nichtdiskriminierung, der Niederlassungsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit, entzogen sind.

Das Privatisierungsverbot stellt insoweit aufgrund seiner Wirkungen eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar. Allerdings können die der in den nationalen Rechtsvorschriften getroffenen Entscheidung hinsichtlich des Eigentumssystems zugrunde liegenden Gründe als Gesichtspunkte berücksichtigt werden und die Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs rechtfertigen. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, eine entsprechende Prüfung vorzunehmen. Das Konzernverbot und Verbot von dem Interesse des Netzbetriebs zuwiderlaufenden Tätigkeiten stellen darüber hinaus ebenfalls Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs dar, die der Rechtfertigung bedürfen. Die in der Frage des vorlegenden Gerichts genannten Ziele, Quersubventionierungen im weiten Sinne einschließlich des Austauschs strategischer Informationen zu unterbinden, Transparenz auf den Märkten für Elektrizität und Gas zu schaffen und Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern, zielen darauf ab, einen unverfälschten Wettbewerb auf den Märkten für die Erzeugung, die Lieferung und den Vertrieb von Elektrizität und Gas zu gewährleisten.

Das Ziel der Verhinderung von Quersubventionierungen soll zudem ausreichende Investitionen in die Elektrizitäts- und Gasverteilernetze garantieren. Die betreffenden nationalen Maßnahmen verfolgen somit zwingende Ziele, die im Allgemeininteresse liegen. Denn das Ziel eines unverfälschten Wettbewerbs wird auch vom AEU-Vertrag verfolgt und soll letztlich den Verbraucher schützen und der Schutz der Verbraucher ist ein zwingender Grund des Allgemeininteresses. Das Ziel, ausreichende Investitionen in die Elektrizitäts- und Gasverteilernetze zu garantieren, soll u.a. die Sicherheit der Energieversorgung gewährleisten; ein Ziel, das der EuGH ebenfalls als zwingenden Grund des Allgemeininteresses anerkannt hat.

Schließlich sind das Konzernverbot und das Verbot von dem Interesse des Netzbetriebs potenziell zuwiderlaufenden Tätigkeiten mit dem niederländischen Gesetz eingeführt worden, das u.a. zur Umsetzung der Richtlinien von 2003 erlassen wurde. Auch wenn die beiden Verbote in diesen Richtlinien nicht verlangt werden, hat das Königreich der Niederlande mit der Einführung dieser Maßnahmen Ziele verfolgt, die mit den genannten Richtlinien angestrebt werden. Die vom vorlegenden Gericht genannten Ziele können daher grundsätzlich als zwingende Gründe des Allgemeininteresses die festgestellten Beschränkungen der Grundfreiheiten rechtfertigen. Allerdings müssen die betreffenden Beschränkungen den verfolgten Zielen angemessen sein und dürfen nicht über das zu deren Erreichung Erforderliche hinausgehen. Dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 137 vom 22.10.2013
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