07.11.2023

Dringlichkeitsverlust bei Ausschöpfen der gesetzlichen Berufungseinlegungs- und begründungsfrist

Das volle Ausschöpfen der gesetzlichen Berufungseinlegungs- und -begründungsfristen ist in der Regel nicht dringlichkeitsschädlich. Lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen kann eine Selbstwiderlegung durch verzögertes Betreiben des Verfahrens auch bei der Einhaltung der Rechtsmittelfristen entfallen. Ein solcher Sonderfall kommt im Rahmen der Gesamtwürdigung allenfalls in Betracht, wenn zum einen eine tatsächlich und rechtlich äußerst einfache Fallgestaltung gegeben ist, bei der keinerlei weitere tatsächliche Ermittlungen anzustellen und keine weiteren Glaubhaftmachungsmittel zu beschaffen sind, und wenn zum anderen der Verfügungskläger auch durch sein sonstiges Verhalten zum Ausdruck bringt, dass ihm selbst die Sache nicht so eilig ist.

OLG Nürnberg v. 24.10.2023 - 3 U 965/23
Der Sachverhalt:
Die Verfügungsbeklagte beschäftigt sich gewerblich u.a. mit der Vermittlung von Versicherungen. Eine für sie tätige Mitarbeiterin ist Frau N. Der Verfügungskläger ist selbstständiger Versicherungsmakler. Zu den von ihm betreuten Kunden gehört Frau B., die im Jahr 2021 über einen Mitarbeiter der Verfügungsbeklagten eine private Riesterrente bei der "V Versicherung" abschloss. Im Oktober 2022 stellte Frau B. die Riesterrente auf Anraten des Verfügungsklägers beitragsfrei. Mit E-Mail vom 18.10.2022 widerrief Frau B. gegenüber der Verfügungsbeklagten eine etwaig von ihr erteilte Einwilligung zur Kontaktaufnahme. Den Eingang dieses Schreibens bestätigte die Verfügungsbeklagte am selben Tag per E-Mail.

Die Mitarbeiterin bei der Verfügungsbeklagten Frau N. rief Anfang November 2022 bei Frau B. an und wollte wegen des Themas der Beitragsfreistellung der Riesterrente einen Termin vereinbaren. Am 8.12.2022 erfolgte ein weiteres Telefonat zwischen Frau N. und Frau B. Wegen dieses Sachverhaltes mahnte der Verfügungskläger die Verfügungsbeklagte mit Anwaltsschreiben vom 5.1.2023 ab und forderte zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung auf. Die Verfügungsbeklagte ließ diese Ansprüche mit anwaltlichem Schreiben vom 9.1.2023 zurückweisen.

Das LG erließ am 18.1.2023 die nachfolgende einstweilige Verfügung: "Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Verfügung [...] untersagt, im geschäftlichen Verkehr Verbraucher ohne deren vorheriges Einverständnis zu Werbezwecken anzurufen oder anrufen zu lassen - wenn dies geschieht, wie im November 2022 und am 8.12.2022 mit den Telefonanrufen bei Frau B." Diese Beschlussverfügung stellte der Verfügungskläger an die Verfügungsbeklagte, aber nicht an deren Prozessbevollmächtigte zu. Nach Widerspruchseinlegung durch die Verfügungsbeklagte hob das LG die Beschlussverfügung vom 18.1.2023 auf und wies den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 17.1.2023 zurück, da der Verfügungsbeschluss nicht innerhalb der Vollziehungsfrist ordnungsgemäß zugestellt worden sei.

Auf die Berufung des Verfügungsklägers bestätigte des OLG die einstweilige Verfügung des LG vom 18.1.2023.

Die Gründe:
Der Verfügungsanspruch des Verfügungsklägers ergibt sich aus § 7 Abs. 2 Nr. 1 UWG. Es besteht auch ein Verfügungsgrund. Die Dringlichkeitsvermutung des § 12 Abs. 1 UWG ist nicht widerlegt.

Die Vermutung der Dringlichkeit gilt als widerlegt, wenn der Verfügungskläger durch sein Verhalten selbst zu erkennen gibt, dass es "ihm nicht eilig ist". Das ist der Fall, wenn er längere Zeit zuwartet, obwohl er den Wettbewerbsverstoß und die Person des Verantwortlichen kennt oder grob fahrlässig nicht kennt. Entscheidend ist dabei allein der Zeitpunkt, zu welchem der Verfügungsklagepartei die maßgeblichen Tatsachen bekannt geworden sind. Vorliegend ist die Vermutung der Dringlichkeit nicht durch zögerliche Antragstellung (selbst) widerlegt. Der Verfügungskläger führte auf den gerichtlichen Hinweis in der Terminsladung aus, dass er von den beiden Telefonanrufen vom November 2022 und 8.12.2022 am 21.12. oder 22.12. Kenntnis erlangt habe und dass am 23.12. Frau B. dann die Belege übersandt habe. Nachdem der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 17.1.2023 datiert, erfolgte die Antragstellung innerhalb der Monatsfrist.

Das Ausschöpfen der zur Einlegung und Begründung der Berufung gesetzlich vorgesehenen Fristen (§ 517, § 520 Abs. 2 ZPO) ist hier nicht dringlichkeitsschädlich. Die Ausschöpfung der Berufungsbegründungsfrist ist den Berufungsführern gesetzlich zugestanden; im Hinblick auf die Länge dieser Fristen differenziert das Gesetz nicht zwischen Hauptsache- und Eilverfahren. Der Gesetzgeber gibt damit zu erkennen, dass er die Zeit von insgesamt zwei Monaten für ausreichend, aber auch erforderlich hält, um das Rechtsmittel in der gebotenen Weise zu begründen, was sich mittelbar auch auf die Frage der Dringlichkeitsschädlichkeit auswirkt.

Lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen kann eine Selbstwiderlegung durch verzögertes Betreiben des Verfahrens auch bei der Einhaltung der Rechtsmittelfristen entfallen. Ein solcher Sonderfall kommt im Rahmen der Gesamtwürdigung allenfalls in Betracht, wenn zum einen eine tatsächlich und rechtlich äußerst einfache Fallgestaltung gegeben ist, bei der keinerlei weitere tatsächliche Ermittlungen anzustellen und keine weiteren Glaubhaftmachungsmittel zu beschaffen sind, und wenn zum anderen der Verfügungskläger auch durch sein sonstiges Verhalten zum Ausdruck bringt, dass ihm selbst die Sache nicht so eilig ist. Vorliegend handelt es sich weder um eine äußerst einfache Fallgestaltung, da das LG die erlassene einstweilige Verfügung wegen des Nichteinhaltens der Vollziehungsfrist aufhob, noch sind weitere Aspekte dargetan oder ersichtlich, die demonstrieren würden, dass der Verfügungskläger das Verfahren in der Berufungsinstanz nicht mit der gebotenen Zügigkeit betreibt.

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