06.11.2012

EU-Kommission darf wegen unionsrechtwidriger Kartelle vor nationalen Gerichten auf Schadensersatz klagen

Die Charta der Grundrechte der EU hindert die EU-Kommission nicht daran, im Namen der Union vor einem nationalen Gericht auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union durch ein unionsrechtswidriges Kartell oder Verhalten verursacht wurde. Erlässt die Kommission eine Entscheidung, mit der sie das Bestehen einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung feststellt, so bindet diese Entscheidung die staatlichen Stellen einschließlich der nationalen Gerichte.

EuGH 6.11.2012, C-199/11
Der Sachverhalt:
Im Februar 2007 setzte die Kommission gegen die Otis-, die Kone-, die Schindler- und die ThyssenKrupp-Gruppe wegen Beteiligung an Kartellen auf dem Markt des Verkaufs, des Einbaus, der Wartung und der Modernisierung von Aufzügen und Fahrtreppen in Belgien, Deutschland, Luxemburg und den Niederlanden Geldbußen in einer Gesamthöhe von rd. 1 Mrd. € fest. Das EuG wies die hiergegen gerichteten Nichtigkeitsklagen von Otis, Kone und Schindler ab. Die gegen die Unternehmen der ThyssenKrupp-Gruppe festgesetzten Geldbußen setzte es hingegen herab. Mehrere Unternehmen dieser vier Gruppen legten beim EuGH Rechtsmittel gegen die Urteile des EuG ein.

Parallel dazu reichte die Kommission im Juni 2008 - als Vertreterin der EU - bei der Rechtbank van koophandel te Brussel (Belgien) eine Klage ein, mit der sie von Otis, Kone, Schindler und ThyssenKrupp die Zahlung eines Betrages von rd. 7 Mio. € verlangte. Die Kommission machte geltend, dass der EU aufgrund der Vereinbarung, an der diese Unternehmen beteiligt gewesen seien, ein finanzieller Schaden entstanden sei. Die Union hatte mehrere öffentliche Aufträge für den Einbau, die Wartung und die Erneuerung von Aufzügen und Fahrtreppen in verschiedenen EU-Gebäuden mit Sitz in Belgien und Luxemburg vergeben, deren Preis infolge der von der Kommission für rechtswidrig erklärten Vereinbarung über dem Marktpreis gelegen habe.

Vor diesem Hintergrund legte die Rechtbank van koophandel te Brussel dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor. Sie möchte wissen, ob die Kommission im konkreten Kontext dieser Rechtssache zur Vertretung der Union vor einem nationalen Gericht befugt ist. Außerdem fragt sie, ob die Grundrechtecharta der EU die Kommission daran hindert, als Vertreterin der Union auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union aufgrund eines wettbewerbswidrigen Verhaltens entstanden ist, für das in einer Entscheidung dieses Organs die Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht festgestellt wurde.

Die Gründe:
Für die Vertretung der EU ist der Vertrag zur Gründung der EG maßgeblich, da der Rechtsstreit vor dem Inkrafttreten des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) anhängig gemacht worden ist. Somit ist die Kommission befugt, die Gemeinschaft vor dem nationalen Gericht zu vertreten, ohne dass sie dafür einer spezifischen Vollmacht bedarf. Darüber hinaus hindert die Charta die Kommission nicht daran, im Namen der Union vor einem nationalen Gericht auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union durch ein unionsrechtswidriges Kartell oder Verhalten entstanden ist.

Jedermann - das gilt auch für die EU - kann Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen, wenn zwischen dem Schaden und einem verbotenen Kartell oder Verhalten ein Kausalzusammenhang besteht. Bei der Ausübung dieses Rechts müssen jedoch die Grundrechte der Parteien beachtet werden, wie sie insbes. in der Charta gewährleistet sind. Dabei umfasst das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz mehrere Elemente, zu denen u.a. das Recht auf Zugang zu einem Gericht und der Grundsatz der Waffengleichheit gehören.

Insoweit ist festzustellen, dass der Grundsatz, wonach die nationalen Gerichte durch die Feststellung eines rechtswidrigen Verhaltens in einer Entscheidung der Kommission gebunden sind, nicht bedeutet, dass die Parteien kein Recht auf Zugang zu einem Gericht hätten. Die nationalen Gerichte sind zwar durch die Feststellungen der Kommission in Bezug auf das Vorliegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens gebunden, doch sind allein sie dafür zuständig, das Vorliegen eines Schadens und eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen diesem Verhalten und dem entstandenen Schaden zu beurteilen. Die Kommission ist daher nicht Richterin in eigener Sache.

Der Grundsatz der Waffengleichheit schließlich dient der Wahrung des Gleichgewichts zwischen den Prozessparteien, indem er gewährleistet, dass jedes Dokument, das einem Gericht vorgelegt wird, von jedem am Verfahren Beteiligten kontrolliert und in Frage gestellt werden kann. Im vorliegenden Fall wurden aber die Informationen, die die Kommission im Kartellverfahren gesammelt hatte - und die die beklagten Unternehmen nicht zu kennen behaupten -, dem nationalen Gericht von der Kommission gar nicht vorgelegt. Jedenfalls verbietet das Unionsrecht der Kommission, bei einer wettbewerbsrechtlichen Untersuchung erlangte Informationen zu einem anderen als dem Untersuchungszweck zu verwerten.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 138 vom 6.11.2012
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