19.09.2023

Meinungsfreiheit - Türkei: Zurückhalten von Ausgaben einer an Inhaftierte versandten Zeitschrift durch Strafvollzugsbehörden

Gefangene haben das Recht, in Haft weiterhin Informationen und Ideen zu erhalten. Jede Einschränkung dieses Rechts muss einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprechen.

EGMR v. 18.07.2023 - 23782/20 u. 40731/20
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer verbüßten im beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt in zwei verschiedenen türkischen Hochsicherheitsgefängnissen verschärfte lebenslange Haftstrafen unter anderem wegen des Versuchs, die verfassungsmäßige Ordnung mit Gewalt zu untergraben. Die jeweilige Anstaltsleitung verweigerte ihnen die Zustellung mehrerer Ausgaben einer zweiwöchentlich erscheinenden politischen Zeitschrift, die ihnen auf dem Postweg zugesandt worden war, ohne dass diese zuvor rechtmäßig bestellt oder über die Anstaltsleitung erworben worden waren. Rechtsmittel dagegen blieben erfolglos; das türkische Verfassungsgerichtshof erklärte die Individualbeschwerden der Beschwerdeführer schließlich als offensichtlich unbegründet für unzulässig.

Die Gründe:
Der EGMR bekräftigte eingangs, dass Gefangene das Recht hätten, in Haft weiterhin Informationen und Ideen zu erhalten und dass jede Einschränkung dieses Rechts einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprechen müsse. Er hielt fest, dass nach der Rechtsprechung des türkischen Verfassungsgerichts die dortigen Strafvollzugsbehörden verpflichtet sind, Entscheidungen zu erlassen, die hinreichend begründet sind und bestimmten Kriterien entsprechen, wenn sie die Auslieferung von Publikationen an Gefangene ablehnen. Zugleich habe sich das Verfassungsgericht vorliegend im Wesentlichen auf den mit der Überwachung der an die Gefangenen versandten Publikationen verbundenen Arbeitsaufwand gestützt, um festzustellen, dass die Verweigerung der Zustellung dieser Veröffentlichungen an die Gefangenen einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entspreche.

Der EGMR stellte fest, dass die Gefängnisbehörden im vorliegenden Fall die Auslieferung von vier Ausgaben einer Zeitschrift verweigert hatten, die ihrer Ansicht nach die Sicherheit in Gefängnissen gefährden könne, indem sie Hungerstreiks bestimmter Gefangener in anderen Gefängnissen auslöse, illegale Organisationen und deren Aktivitäten fördere und zu Gewalttaten aufrufe. Die von den Beschwerdeführern gegen diese Ablehnungen erhobenen Beschwerden seien mit der Begründung zurückgewiesen worden, dass die streitgegenständlichen Entscheidungen verfahrens- und gesetzeskonform gewesen seien. Der EGMR erklärte, dass weder die Entscheidungen der zuständigen türkischen Gefängnisbehörden noch die nachfolgenden - nach Ansicht des EGMR recht knapp gehaltenen und nicht hinreichend begründeten - Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte es ihm ermöglichten festzustellen, dass diese Stellen im vorliegenden Fall das Recht der Beschwerdeführer auf freie Meinungsäußerung zum einen und das Erfordernis der Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin in Gefängnissen zum anderen unter Beachtung der vom türkischen Verfassungsgericht aufgestellten Kriterien einerseits und der Rechtsprechung des EGMR in Fällen der freien Meinungsäußerung andererseits angemessen abgewogen hätten. Das Verfassungsgericht habe es abgelehnt, die Ablehnungen der Strafvollzugsbehörden im Einzelfall zu prüfen und beschlossen, allgemeine Feststellungen aus eigenen früheren Urteilen auf die individuellen Beschwerden der Beschwerdeführer anzuwenden. Somit seien die innerstaatlichen Behörden offenbar weder dem Erfordernis einer Abwägung der verschiedenen auf dem Spiel stehenden Interessen noch ihrer Pflicht nachgekommen, jeglichen Missbrauch seitens der Verwaltung zu verhindern.

Die türkische Regierung habe vor dem EGMR nicht nachgewiesen, dass die von den innerstaatlichen Behörden zur Rechtfertigung der streitgegenständlichen Maßnahmen angeführten Gründe sachdienlich und ausreichend oder dass diese Maßnahmen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen seien.

Der EGMR bejahte mit 5:2 Stimmen eine Verletzung von Art. 10 EMRK.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
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