Transparenzanforderungen dürfen nicht überspannt werden
OLG Hamburg v. 4.2.2025 - 9 U 69/24
Der Sachverhalt:
Der klagende Verbraucherschutzverein hatte von der beklagten Versicherung die Unterlassung der Verwendung des Risikoausschlusses in Abschnitt B Teil 2 § 7 Abs. 2 lit. j) der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Restschuldversicherung RSV/RSVplus (AVB-B2) und der Verwendung des zugehörigen Produktinformationsblatts verlangt.
Der Wortlaut von § 7 AVB-B2 lautet:
"§ 7 In welchen Fällen ist der Versicherungsschutz für Arbeitsunfähigkeit ausgeschlossen?
(1) Zur Vereinfachung des Antragsprozesses führen wir vor Ihrem Beitritt zum Gruppenversicherungsvertrag keine Gesundheitsprüfung durch. Stattdessen gilt:
a) Wir sind nicht zur Zahlung verpflichtet bei Arbeitsunfähigkeit infolge einer Ihnen bei Abgabe Ihrer Beitrittserklärung bekannten Erkrankung, wegen derer Sie in den letzten 12 Monaten vor Abgabe Ihrer Beitrittserklärung ärztlich beraten oder behandelt wurden.
c) Absatz 2 bleibt unberührt.
(2) Der Versicherungsschutz ist ausgeschlossen bei Arbeitsunfähigkeit verursacht:
j) durch psychische Erkrankungen, z.B. depressive Erkrankungen (etwa Depressionen, Dysthymie, Erschöpfungssyndrom), Angsterkrankungen, Neurosen, Schizophrenien, Ess-Störungen, Demenz, psychosomatische Störungen (d. h. Schmerzen oder Krankheitsgefühl ohne erkennbare Ursache);"
Das LG hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Gründe:
Der Kläger hat gegen die Beklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt Ansprüche auf Unterlassung und Folgenbeseitigung. Die beanstandete Klausel in § 7 Abs. 2 lit. j) AVB-B2 ist weder intransparent i.S.v. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, noch stellt sie für eine durchschnittliche versicherte Person eine unangemessene Benachteiligung i.S.v. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB dar.
Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (vgl. BGH, Urt. v. 19.10.2022 - IV ZR 185/20). Liegt − wie hier − ein Gruppenversicherungsvertrag vor, kommt es daneben auch auf die Verständnismöglichkeiten durchschnittlicher Versicherter und ihre Interessen an (vgl. BGH, Urt. v. 10.7.2024 - IV ZR 129/23).
Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird erkennen, dass der Ausschluss in § 7 Abs. 2 lit. j) AVB-B2 voraussetzt, dass die psychische Erkrankung die alleinige Ursache für die Arbeitsunfähigkeit ist. Dies ergibt sich zum einen aus dem Wortlaut, wonach die Arbeitsunfähigkeit durch psychische Erkrankungen "verursacht" und nicht (mit-)verursacht sein muss. Zum anderen folgt aus dem systematischen Zusammenhang der Klauseln, insbesondere der Beschreibung der Arbeitsunfähigkeit in § 1 Abs. 7 AVB-A, dass eine psychische Erkrankung nur dann zum Leistungsausschluss führen soll, wenn es sich hierbei um die zur Arbeitsunfähigkeit führende Haupterkrankung handelt.
Die versicherte Person wird der Regelung in § 7 Abs. 2 lit. j) AVB-B2 nicht entnehmen, dass es für den Leistungsausschluss ausreicht, wenn neben einer zur Arbeitsunfähigkeit führenden körperlichen Erkrankung zugleich eine psychische Erkrankung vorliegt. Die versicherte Person wird daher in einem Fall, in dem eine schwere körperliche Erkrankung (z.B. die von dem Kläger geschilderte Krebserkrankung) mit psychischen Nebenerkrankungen zur Arbeitsunfähigkeit führt, erkennen, dass es der Beklagten verwehrt ist, sich auf den Ausschluss in § 7 Abs. 2 lit. j) AVB-B2 zu berufen. Denn allein der Umstand, dass auch eine psychische Erkrankung vorliegt, führt nach dem Wortlaut der Klausel nicht zum Leistungsausschluss in Bezug auf anderweitig bestehende körperliche Erkrankungen.
Transparenzanforderungen dürfen nicht überspannt werden. Eine Überspannung würde nämlich letztlich wieder Intransparenz mit sich bringen (vgl. BGH, Urt. v. 18.9.2024 - IV ZR 436/22). Der Kläger rügte zu Unrecht, dass § 7 Abs. 2 AVB, anders als § 7 Abs. 1 AVB-B2 nicht im Fettdruck, am Ende von § 7 platziert und somit "versteckt" sei. Der durchschnittlichen versicherten Person wird bereits durch den Verweis deutlich gemacht, dass in § 7 Abs. 2 AVB-B2 weitere Ausschlüsse enthalten sind. Zudem darf sie sich nicht auf die fett gedruckten Passagen beschränken, sondern muss - insbesondere bei einer Klausel die fett mit "In welchen Fällen ist der Versicherungsschutz für Arbeitsunfähigkeit ausgeschlossen?" überschrieben ist, die gesamte Klausel zur Kenntnis nehmen. Denn weder die sorgfältige Lektüre noch das eigene Nachdenken kann dem Kunden im Rahmen der Transparenzkontrolle erspart bleiben.
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Landesrecht Hamburg
Der klagende Verbraucherschutzverein hatte von der beklagten Versicherung die Unterlassung der Verwendung des Risikoausschlusses in Abschnitt B Teil 2 § 7 Abs. 2 lit. j) der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Restschuldversicherung RSV/RSVplus (AVB-B2) und der Verwendung des zugehörigen Produktinformationsblatts verlangt.
Der Wortlaut von § 7 AVB-B2 lautet:
"§ 7 In welchen Fällen ist der Versicherungsschutz für Arbeitsunfähigkeit ausgeschlossen?
(1) Zur Vereinfachung des Antragsprozesses führen wir vor Ihrem Beitritt zum Gruppenversicherungsvertrag keine Gesundheitsprüfung durch. Stattdessen gilt:
a) Wir sind nicht zur Zahlung verpflichtet bei Arbeitsunfähigkeit infolge einer Ihnen bei Abgabe Ihrer Beitrittserklärung bekannten Erkrankung, wegen derer Sie in den letzten 12 Monaten vor Abgabe Ihrer Beitrittserklärung ärztlich beraten oder behandelt wurden.
c) Absatz 2 bleibt unberührt.
(2) Der Versicherungsschutz ist ausgeschlossen bei Arbeitsunfähigkeit verursacht:
j) durch psychische Erkrankungen, z.B. depressive Erkrankungen (etwa Depressionen, Dysthymie, Erschöpfungssyndrom), Angsterkrankungen, Neurosen, Schizophrenien, Ess-Störungen, Demenz, psychosomatische Störungen (d. h. Schmerzen oder Krankheitsgefühl ohne erkennbare Ursache);"
Das LG hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Gründe:
Der Kläger hat gegen die Beklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt Ansprüche auf Unterlassung und Folgenbeseitigung. Die beanstandete Klausel in § 7 Abs. 2 lit. j) AVB-B2 ist weder intransparent i.S.v. § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB, noch stellt sie für eine durchschnittliche versicherte Person eine unangemessene Benachteiligung i.S.v. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB dar.
Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (vgl. BGH, Urt. v. 19.10.2022 - IV ZR 185/20). Liegt − wie hier − ein Gruppenversicherungsvertrag vor, kommt es daneben auch auf die Verständnismöglichkeiten durchschnittlicher Versicherter und ihre Interessen an (vgl. BGH, Urt. v. 10.7.2024 - IV ZR 129/23).
Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird erkennen, dass der Ausschluss in § 7 Abs. 2 lit. j) AVB-B2 voraussetzt, dass die psychische Erkrankung die alleinige Ursache für die Arbeitsunfähigkeit ist. Dies ergibt sich zum einen aus dem Wortlaut, wonach die Arbeitsunfähigkeit durch psychische Erkrankungen "verursacht" und nicht (mit-)verursacht sein muss. Zum anderen folgt aus dem systematischen Zusammenhang der Klauseln, insbesondere der Beschreibung der Arbeitsunfähigkeit in § 1 Abs. 7 AVB-A, dass eine psychische Erkrankung nur dann zum Leistungsausschluss führen soll, wenn es sich hierbei um die zur Arbeitsunfähigkeit führende Haupterkrankung handelt.
Die versicherte Person wird der Regelung in § 7 Abs. 2 lit. j) AVB-B2 nicht entnehmen, dass es für den Leistungsausschluss ausreicht, wenn neben einer zur Arbeitsunfähigkeit führenden körperlichen Erkrankung zugleich eine psychische Erkrankung vorliegt. Die versicherte Person wird daher in einem Fall, in dem eine schwere körperliche Erkrankung (z.B. die von dem Kläger geschilderte Krebserkrankung) mit psychischen Nebenerkrankungen zur Arbeitsunfähigkeit führt, erkennen, dass es der Beklagten verwehrt ist, sich auf den Ausschluss in § 7 Abs. 2 lit. j) AVB-B2 zu berufen. Denn allein der Umstand, dass auch eine psychische Erkrankung vorliegt, führt nach dem Wortlaut der Klausel nicht zum Leistungsausschluss in Bezug auf anderweitig bestehende körperliche Erkrankungen.
Transparenzanforderungen dürfen nicht überspannt werden. Eine Überspannung würde nämlich letztlich wieder Intransparenz mit sich bringen (vgl. BGH, Urt. v. 18.9.2024 - IV ZR 436/22). Der Kläger rügte zu Unrecht, dass § 7 Abs. 2 AVB, anders als § 7 Abs. 1 AVB-B2 nicht im Fettdruck, am Ende von § 7 platziert und somit "versteckt" sei. Der durchschnittlichen versicherten Person wird bereits durch den Verweis deutlich gemacht, dass in § 7 Abs. 2 AVB-B2 weitere Ausschlüsse enthalten sind. Zudem darf sie sich nicht auf die fett gedruckten Passagen beschränken, sondern muss - insbesondere bei einer Klausel die fett mit "In welchen Fällen ist der Versicherungsschutz für Arbeitsunfähigkeit ausgeschlossen?" überschrieben ist, die gesamte Klausel zur Kenntnis nehmen. Denn weder die sorgfältige Lektüre noch das eigene Nachdenken kann dem Kunden im Rahmen der Transparenzkontrolle erspart bleiben.
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