19.09.2023

Barrierefrei: "Funktionell erblindete" Frau kann Schriftsätze in Form von Audiodateien verlangen

Nach § 191a Abs. 1 S. 2 i.V.m. Abs. 1 S. 1 GVG kann ein blinde oder sehbehinderte Person - trotz anwaltlicher Vertretung - nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach § 191a Abs. 2 GVG verlangen, dass ihr Schriftsätze und andere Dokumente eines gerichtlichen Verfahrens barrierefrei zugänglich gemacht werden. Die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern hier eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Es steht vorliegend eine Abweichung von der Rechtsprechung des BVerfG sowie des BGH im Raum.

LG München I v. 12.9.2023, 14 T 9699/23
Der Sachverhalt:
Zwischen der Klägerin und der Beklagten besteht ein Mietverhältnis über eine Ein-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss. Die Klägerin hatte die Beklagte vor dem AG München auf Räumung und Herausgabe der Wohnung aufgrund einer Eigenbedarfskündigung vom 6.1.2023 sowie zweier fristloser, hilfsweise ordentlicher Kündigungen vom 12.1.2023 bzw. 16.3.2023 wegen Zahlungsverzugs in Anspruch genommen.

Die Beklagte behauptete, sich in einem "mit Blindheit vergleichbaren Zustand" zu befinden. Dies hat die Klägerin bestritten. Das beklagtenseits vorgelegte ärztliche Attest spricht insoweit von einer "dramatische[n] Gesamtsituation". Die Beklagte sei "funktionell erblindet" und daher in allen Bereichen des Alltags schwer in ihrer Selbständigkeit eingeschränkt. Der Zustand der Beklagten erfordere, dass "die Augen die meiste Zeit des Tages sowie in der Nacht mit Uhrglasverband abgeklebt werden". Die Beklagte leide unter "ständigen, nicht behebbaren chronischen Schmerzen der Augenoberfläche bei schwerer Keratokonjuntivitis sicca".

Die der Blindenschrift nicht mächtige Beklagte hat mehrfach beantragt, ihr die "Schriftsätze des gerichtlichen Verfahrens" barrierefrei in Form einer Audiodatei zur Verfügung zu stellen. Das AG hat die entsprechenden Anträge der Beklagten zurückgewiesen. Gemäß den Beschlüssen des BVerfG vom 10.10.2014 - 1 BvR 856/13 bzw. des BGH vom 10.1.2013 - I ZB 70/12 sei es zumindest dann mit Art. 3 Abs. 2 GG vereinbar, eine sehbehinderte Partei für den Zugang zu den Prozessunterlagen auf eine Vermittlung durch ihren Rechtsanwalt zu verweisen, wenn der Streitstoff übersichtlich ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass seine Vermittlung durch den Rechtsanwalt nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig ist. Dies sei hier aus Sicht des Erstgerichts der Fall.

Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten hat das LG den Beschluss des AG aufgehoben und dem Antrag stattgegeben. Allerdings wurde zur Fortbildung des Rechts die Rechtsbeschwerde zugelassen.

Die Gründe:
Die Beklagte verlangte vorliegend - trotz anwaltlicher Vertretung - zu Recht die barrierefreie Übermittlung der verfahrensgegenständlichen Schriftsätze in Form von Audio-Dateien (§ 191a Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GVG i.V.m. § 4 ZMV).

Nach § 191a Abs. 1 S. 2 i.V.m. Abs. 1 S. 1 GVG kann ein blinde oder sehbehinderte Person nach Maßgabe der Rechtsverordnung nach § 191a Abs. 2 GVG verlangen, dass ihr Schriftsätze und andere Dokumente eines gerichtlichen Verfahrens barrierefrei zugänglich gemacht werden. Nach § 191a Abs. 2 GVG bestimmt das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz durch Rechtsverordnung insbesondere unter welchen Voraussetzungen und in welcher Weise die in § 191 Abs. 1 GVG genannten Dokumente und Dokumente, die von den Parteien zur Akte gereicht werden, einer blinden oder sehbehinderten Person zugänglich gemacht werden. Nach § 4 Abs. 1 ZMV besteht der Anspruch auf Zugänglichmachung, soweit der berechtigten Person dadurch der Zugang zu den ihr zugestellten oder formlos mitgeteilten Dokumenten erleichtert und sie in die Lage versetzt wird, eigene Rechte im Verfahren wahrzunehmen, wobei die Zugänglichmachung nach § 4 Abs. 2 S. 1 ZMV auf Verlangen der berechtigten Person erfolgt. § 191a Abs. 3 S. 3 GVG besagt überdies, dass nach Einführung elektronischer Dokumente (siehe u.a. § 130c ZPO), diese blinden oder sehbehinderten Personen barrierefrei zugänglich zu machen sind.

Die Voraussetzungen dieser Normen waren hier nach Ansicht der Kammer erfüllt. Die Beklagte gehört zweifelsfrei auch zum qualifizierten Personenkreis des § 191a GVG. Soweit das AG davon ausgegangen war, dass die barrierefrei Zugänglichmachung der maßgeblichen Schriftsätze zur Wahrnehmung der Rechte der Beklagten im Verfahren nicht erforderlich sei, vermochte sich die Kammer diesem Standpunkt nicht anzuschließen. Sie ist insoweit - anders als das Erstgericht - zunächst der Ansicht, dass die vom AG zitierte Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar ist. Ferner ist sie der Meinung, dass die Rechtsprechung des BVerfG sowie des BGH jedenfalls auf die aktuelle Fassung des § 191a GVG keine Anwendung (mehr) finden kann.

Die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern hier eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts, § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Es steht vorliegend eine Abweichung von der Rechtsprechung des BVerfG sowie des BGH im Raum.

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