25.11.2024

Haftung der Fahrzeughersteller im Dieselskandal - Schlussanträge des Generalanwalts im Fall Mercedes-Benz Group

Generalanwalt Rantos hat am 21.11.2024 seine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C-251/23 und C-308/23 Mercedes-Benz Group (Haftung der Fahrzeughersteller) vorgelegt. Zwei Käufer von Mercedes-Dieselfahrzeugen haben die Mercedes Benz-AG vor dem LG Duisburg auf Schadensersatz verklagt, weil die Fahrzeuge mit unionsrechtlich unzulässigen Einrichtungen ausgerüstet seien. Das LG hat dem EuGH in diesem Zusammenhang eine Reihe von Fragen vorgelegt. Es ersucht den EuGH, im Anschluss an dessen Urteil v. 21.3.2023 - C‑100/21, Mercedes-Benz Group (Haftung der Hersteller von Fahrzeugen mit Abschalteinrichtungen), seine Rechtsprechung insbesondere hinsichtlich der Frage zu vertiefen, welcher Schadensersatzanspruch dem individuellen Käufer eines Kraftfahrzeugs zusteht, das die in der Verordnung Nr. 715/2007 vorgesehenen Grenzwerte von Stickstoffoxid (NOx)-Emissionen nicht einhält.

EuGH, C-251/23 u.a.: Schlussanträge des Generalanwalts v. 21.11.2024
Das LG Duisburg weist u.a. darauf hin, dass der BGH im Anschluss an jenes EuGH-Urteil vom 21.3.2023 (C‑100/21) drei Urteile erlassen habe, wonach sich der unionsrechtliche Schutz bei einem bloß fahrlässigen Verstoß des Fahrzeugherstellers gegen das Abgasrecht der EU nicht auf das Interesse des Käufers erstrecke, nicht an dem Vertrag festgehalten zu werden (BGH v. 26.6.2023 - VIa ZR 335/21; VIa ZR 533/21; VIa ZR 1031/21). Der BGH spreche deswegen dem Erwerber eines solchen Fahrzeugs keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Erwerb des Fahrzeugs - gegebenenfalls Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs und unter Anrechnung des Wertes sonstiger aufgrund des Fahrzeugerwerbs erlangter Vorteile - zu, sondern lediglich einen solchen auf Erstattung eines Differenzschadens. Zudem habe der BGH die Auffassung vertreten, dass der Schadensersatzanspruch des Käufers eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestatteten Fahrzeugs nach unten auf mindestens 5 % des Kaufpreises dieses Fahrzeugs und nach oben auf höchstens 15 % des Kaufpreises zu begrenzen sei.

Generalanwalt Rantos schlägt dem EuGH vor, dem LG wie folgt zu antworten:

1. Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.6.2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge in der durch die Verordnung (EU) Nr. 459/2012 der Kommission vom 29. Mai 2012 geänderten Fassung

sind dahin auszulegen,

dass ein Fahrzeug mit einem Dieselmotor der Generation Euro 5 unabhängig davon, ob eine Abschalteinrichtung vorhanden ist, die in Anhang I dieser Verordnung vorgesehenen Emissionsgrenzwerte dann nicht einhält, wenn der Motor dieses Fahrzeugs, nachdem er warmgelaufen ist, mehr als 180 mg/km Stickoxide ausstößt, wenn er in diesem Zustand den Test "New European Driving Cycle" (NEDC) durchfährt, da die Fahrt mit warmgelaufenem Motor eine im Sinne dieser Bestimmungen normale Nutzung, d. h. unter tatsächlichen Fahrbedingungen, wie sie im Gebiet der Union üblicherweise vorherrschen, dieses Fahrzeugs darstellt.

2. Art. 4 Abs. 2 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2007 in der durch die Verordnung Nr. 459/2012 geänderten Fassung

sind dahin auszulegen,

dass ein Fahrzeug mit einem Dieselmotor der Generation Euro 5 oder Euro 6 unabhängig davon, ob eine Abschalteinrichtung vorhanden ist, die in Anhang I dieser Verordnung vorgesehenen Emissionsgrenzwerte dann nicht einhält, wenn ein Konstruktionsteil in diesem Fahrzeug die Parameter des Verbrennungsvorgangs dahin verändert, dass sich die Emissionen einer schädlichen Substanz erhöhen und sich gleichzeitig die Emissionen anderer schädlicher Substanzen verringern, diese Erhöhung aber zur Überschreitung des in diesem Anhang festgelegten, für die betreffende schädliche Substanz geltenden Grenzwerts führt.

3. Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 in der durch die Verordnung Nr. 459/2012 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen,

dass ein Konstruktionsteil in einem Dieselkraftfahrzeug, das die Parameter des Verbrennungsvorgangs dahin verändert, dass sich die Emissionen einer schädlichen Substanz erhöhen und sich gleichzeitig die Emissionen anderer schädlicher Substanzen verringern, dann eine "Abschalteinrichtung" im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn diese Erhöhung zur Überschreitung des in Anhang I dieser Verordnung festgelegten, für die betreffende schädliche Substanz geltenden Grenzwerts führt.

4. Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 715/2007 in der durch die Verordnung Nr. 459/2012 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen,

dass eine Abschaltvorrichtung nur dann unter die Ausnahme vom Verbot der Verwendung solcher Einrichtungen fallen kann, wenn diese Einrichtung nicht nur zum Schutz des Motors vor Beschädigung oder Unfall, sondern auch zur Gewährleistung des sicheren Betriebs des Fahrzeugs notwendig ist.

5. Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.9.2007 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern sowie von Systemen, Bauteilen und selbstständigen technischen Einheiten für diese Fahrzeuge (Rahmenrichtlinie) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 136/2014 der Kommission vom 11.2.2014 geänderten Fassung,

sind dahin auszulegen,

dass sie zur Einhaltung des unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatzes Vorschriften des nationalen Rechts entgegenstehen, die in einem Rechtsstreit zwischen dem Käufer eines Kraftfahrzeugs und dessen Hersteller über einen Schadensersatzanspruch wegen einer in dem Fahrzeug installierten Abschalteinrichtung oder anderen unzulässigen Schaltungen bzw. Steuerungen dem Käufer in vollem Umfang auferlegen, das Vorliegen dieser Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 in der durch die Verordnung Nr. 459/2012 geänderten Fassung und auch das Nichtvorliegen einer Ausnahme vom Verbot der Verwendung einer solchen Einrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a dieser Verordnung zu beweisen, ohne dass der Hersteller des Fahrzeugs in einer Beweisaufnahme hierüber Informationen beisteuern muss.

6. Art. 3 Nr. 36 und Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46 in der durch die Verordnung Nr. 136/2014 geänderten Fassung sind dahin auszulegen,

dass die Ausstellung einer Übereinstimmungsbescheinigung für den individuellen Käufer eines Fahrzeugs durch den Hersteller den Zweck hat, diesen Käufer spezifisch davor zu schützen, einen Erwerb eines nicht den Anforderungen des Unionrechts genügenden Fahrzeugs zu tätigen, und dass in dem Fall, dass lediglich fahrlässig eine unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung für das Fahrzeug erteilt wurde, dieser Käufer einen Schadensersatzanspruch in Gestalt der betragsmäßigen Erstattung der entstandenen Vermögensdifferenz hat, ohne dass der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet wäre, dem Erwerber den Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Erwerb des Fahrzeugs, gegebenenfalls Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs und unter Anrechnung des Wertes etwaiger sonstiger seitens des Erwerbers aufgrund des Erwerbs des Fahrzeugs erlangter Vorteile, einzuräumen.

Die weitere Frage des LG Duisburg, ob der Schadensersatzanspruch des Käufers eines Fahrzeugs, das nicht den Vorgaben des Unionsrechts über seine Abgasemissionen und/oder die Beschaffenheit seines Emissionskontrollsystems entspricht, auf höchstens 15 % des Kaufpreises beschränkt werden darf, hält der Generalanwalt - für die beiden vorliegenden Fälle - für hypothetisch und daher unzulässig. In den Vorlagebeschlüssen des LG werde nämlich nicht dargetan, dass den beiden Käufern ein 15 % des jeweiligen Kaufpreises übersteigender Schaden entstanden sei.

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