Haftungsquote bei Unfall zwischen rechtsabbiegenden PKW mit auf dem Gehweg fahrenden (querenden) Fahrradfahrer
OLG Schleswig-Holstein v. 19.11.2024 - 7 U 90/23
Der Sachverhalt:
Der damals 18-jährige Kläger war am 16.5.2019 gegen 18 Uhr bei trockener Fahrbahn mit seinem Fahrrad, einem sog. All-Terrain-Bike, mit 10 - 27,5 km/h auf einem ausschließlich Fußgängern vorbehaltene Gehweg unterwegs. Der Beklagte zu 2) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten und als Taxi genutzten Pkw VW Caddy die parallel verlaufende Straße in gleicher Fahrtrichtung und beabsichtigte, nach rechts einzubiegen. Als der Kläger seinerseits die Einmündung mit dem Fahrrad passieren wollte, wurde er von dem Beklagten zu 2) erfasst, vom Fahrrad gestoßen und überrollt. Er erlitt erhebliche Verletzungen.
Die Beklagte zu 1) zahlte auf die von dem Kläger geltend gemachten Ansprüche außergerichtlich auf das Schmerzensgeld einen Betrag i.H.v. 2.000 €. Das gegen den Beklagten zu 2) geführte Strafverfahren wurde nach Zahlung von 200 €, die auf das Schmerzensgeld anzurechnen waren, gem. § 153a StPO endgültig eingestellt. Der Kläger behauptete später, der Beklagte zu 2) müsse im Abbiegevorgang mind. 30 km/h gefahren sein. Der Beklagte zu 2) habe pflichtwidrig nicht darauf geachtet, ob sich von rechts Fußgänger oder Radfahrer genähert hätten. Sein Fahrweg sei für den Beklagten zu 2) problemlos einsehbar gewesen. Er forderte u.a. Festsetzung von weiteren 20.500 € Schmerzensgeld.
Das LG hat die Beklagten auf Basis einer Haftungsquote von 25 % gem. §§ 7, 9 StVG, § 254 BGB zur Zahlung weiterer 7.810 € verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Das OLG hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Die Gründe:
Die vom LG ausgeurteilte Haftungsquote war nicht zu beanstanden.
Ein erwachsener Fahrradfahrer, der verbotswidrig mit 10 - 27,5 km/h auf einem Fußweg fährt, muss sich als Geschädigter ein erhebliches unfallursächliches Verschulden von 75 % entgegenhalten lassen, wenn er eine Straße über den abgesenkten Bordstein überquert, ohne seiner Wartepflicht nachzukommen. Dem rechts abbiegenden Autofahrer, der mit dem verbotswidrig den parallel zur Fahrbahn liegenden Gehweg nutzenden Radfahrer kollidiert, kann kein kausaler Verstoß gegen § 8 Abs. 1 StVO oder § 9 Abs. 1 S. 4 und Abs. 3 S. 1 StVO angelastet werden. Von diesen Regelungen wird nur der berechtigte nachfolgende Verkehr geschützt. Der Geschädigte kann für sich den besonderen Schutz aus den besonderen Abbiege- und Vorfahrtsregelungen nicht in Anspruch nehmen, wenn er als Radfahrer verbotswidrig einen parallel zur Fahrbahn liegenden Gehweg befahren hat.
Die Haftung des Beklagten zu 2) aber nicht allein wegen des groben Pflichtverstoßes des Klägers gänzlich ausgeschlossen. Vielmehr kann dem rechts abbiegenden Autofahrer ein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 Abs. 2 StVO angelastet werden, wenn er bei gehöriger Sorgfalt den Radfahrer rechtzeitig hätte erkennen und die Kollision vermeiden können. Diese Pflicht beinhaltet, sich bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt unfallverhütend zu verhalten. Rechtsabbiegende Autofahrer müssen nämlich damit rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer die Straße, in die eingebogen werden soll, in verkehrswidriger queren (hier Radfahrer auf einem Gehweg in Schulhofnähe).
Maßgebliche und allgemein anerkannte Kriterien der Bemessung des Schmerzensgeldes sind die Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion. Dem Verletzten soll in erster Linie ein Ausgleich für die erlittenen Schmerzen und die entgangene Lebensfreude zukommen. Das LG hatte zutreffend und umfassend die zur Bemessung der Höhe heranzuziehenden Kriterien, insbesondere die erheblichen Verletzungen des noch verhältnismäßig jungen Klägers, die umfassende und langwierige medizinische Versorgung mit mehrfachen stationären Aufenthalten und dem Einsatz einer künstlichen Hüfte berücksichtigt. Zutreffend hat es auch vergleichbare Verletzungsfälle herangezogen und die Entschädigungshöhen als Orientierung genutzt (z.B. OLG Stuttgart, Urt. v. 21.10.2009, 3 U 86/09; OLG Oldenburg, Urt. v. 16.12.2021, 14 U 32/21; OLG Frankfurt, Urt. v. 16.8.2001, 3 U 160/00).
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Landesregierung Schleswig-Holstein
Der damals 18-jährige Kläger war am 16.5.2019 gegen 18 Uhr bei trockener Fahrbahn mit seinem Fahrrad, einem sog. All-Terrain-Bike, mit 10 - 27,5 km/h auf einem ausschließlich Fußgängern vorbehaltene Gehweg unterwegs. Der Beklagte zu 2) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten und als Taxi genutzten Pkw VW Caddy die parallel verlaufende Straße in gleicher Fahrtrichtung und beabsichtigte, nach rechts einzubiegen. Als der Kläger seinerseits die Einmündung mit dem Fahrrad passieren wollte, wurde er von dem Beklagten zu 2) erfasst, vom Fahrrad gestoßen und überrollt. Er erlitt erhebliche Verletzungen.
Die Beklagte zu 1) zahlte auf die von dem Kläger geltend gemachten Ansprüche außergerichtlich auf das Schmerzensgeld einen Betrag i.H.v. 2.000 €. Das gegen den Beklagten zu 2) geführte Strafverfahren wurde nach Zahlung von 200 €, die auf das Schmerzensgeld anzurechnen waren, gem. § 153a StPO endgültig eingestellt. Der Kläger behauptete später, der Beklagte zu 2) müsse im Abbiegevorgang mind. 30 km/h gefahren sein. Der Beklagte zu 2) habe pflichtwidrig nicht darauf geachtet, ob sich von rechts Fußgänger oder Radfahrer genähert hätten. Sein Fahrweg sei für den Beklagten zu 2) problemlos einsehbar gewesen. Er forderte u.a. Festsetzung von weiteren 20.500 € Schmerzensgeld.
Das LG hat die Beklagten auf Basis einer Haftungsquote von 25 % gem. §§ 7, 9 StVG, § 254 BGB zur Zahlung weiterer 7.810 € verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Das OLG hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Die Gründe:
Die vom LG ausgeurteilte Haftungsquote war nicht zu beanstanden.
Ein erwachsener Fahrradfahrer, der verbotswidrig mit 10 - 27,5 km/h auf einem Fußweg fährt, muss sich als Geschädigter ein erhebliches unfallursächliches Verschulden von 75 % entgegenhalten lassen, wenn er eine Straße über den abgesenkten Bordstein überquert, ohne seiner Wartepflicht nachzukommen. Dem rechts abbiegenden Autofahrer, der mit dem verbotswidrig den parallel zur Fahrbahn liegenden Gehweg nutzenden Radfahrer kollidiert, kann kein kausaler Verstoß gegen § 8 Abs. 1 StVO oder § 9 Abs. 1 S. 4 und Abs. 3 S. 1 StVO angelastet werden. Von diesen Regelungen wird nur der berechtigte nachfolgende Verkehr geschützt. Der Geschädigte kann für sich den besonderen Schutz aus den besonderen Abbiege- und Vorfahrtsregelungen nicht in Anspruch nehmen, wenn er als Radfahrer verbotswidrig einen parallel zur Fahrbahn liegenden Gehweg befahren hat.
Die Haftung des Beklagten zu 2) aber nicht allein wegen des groben Pflichtverstoßes des Klägers gänzlich ausgeschlossen. Vielmehr kann dem rechts abbiegenden Autofahrer ein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 Abs. 2 StVO angelastet werden, wenn er bei gehöriger Sorgfalt den Radfahrer rechtzeitig hätte erkennen und die Kollision vermeiden können. Diese Pflicht beinhaltet, sich bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt unfallverhütend zu verhalten. Rechtsabbiegende Autofahrer müssen nämlich damit rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer die Straße, in die eingebogen werden soll, in verkehrswidriger queren (hier Radfahrer auf einem Gehweg in Schulhofnähe).
Maßgebliche und allgemein anerkannte Kriterien der Bemessung des Schmerzensgeldes sind die Ausgleichs- und Genugtuungsfunktion. Dem Verletzten soll in erster Linie ein Ausgleich für die erlittenen Schmerzen und die entgangene Lebensfreude zukommen. Das LG hatte zutreffend und umfassend die zur Bemessung der Höhe heranzuziehenden Kriterien, insbesondere die erheblichen Verletzungen des noch verhältnismäßig jungen Klägers, die umfassende und langwierige medizinische Versorgung mit mehrfachen stationären Aufenthalten und dem Einsatz einer künstlichen Hüfte berücksichtigt. Zutreffend hat es auch vergleichbare Verletzungsfälle herangezogen und die Entschädigungshöhen als Orientierung genutzt (z.B. OLG Stuttgart, Urt. v. 21.10.2009, 3 U 86/09; OLG Oldenburg, Urt. v. 16.12.2021, 14 U 32/21; OLG Frankfurt, Urt. v. 16.8.2001, 3 U 160/00).
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