12.05.2025

Hinreichend substantiierter Sachvortrag des Mieters zu einer gesundheitlichen Härte erfordert nicht immer fachärztliches Attest

Der erforderliche hinreichend substantiierte Sachvortrag des Mieters zu einer gesundheitlichen Härte i.S.v. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB kann insbesondere - muss aber nicht stets - durch Vorlage eines (ausführlichen) fachärztlichen Attests untermauert werden. Vielmehr kann im Einzelfall auch eine (ausführliche) Stellungnahme eines - bezogen auf das geltend gemachte Beschwerdebild - medizinisch qualifizierten Behandlers geeignet sein, den Sachvortrag des Mieters zu untermauern, auch wenn diese nicht von einem Facharzt erstellt worden ist. Dabei kommt es auf die konkreten Umstände, insbesondere den konkreten Inhalt des (ausführlichen) Attests an.

BGH v. 16.4.2025 - VIII ZR 270/22
Der Sachverhalt:
Der Beklagte zu 1) ist seit Dezember 2006 Mieter einer Wohnung der Klägerin in Berlin. Die Beklagte zu 2) ist seine Untermieterin. Am 30.4.2020 erklärte die Klägerin die Kündigung des Mietverhältnisses wegen Eigenbedarfs zum 31.1.2021. Der Beklagte zu 1) widersprach der Kündigung unter Vorlage einer "Stellungnahme über Psychotherapie" seines - sich als Psychoanalytiker bezeichnenden - Behandlers vom 20.11.2020. In der Stellungnahme, in deren Briefkopf die Tätigkeitsfelder des Behandlers u.a. als "Psychoanalyse" und "Psychotherapie (HPG)" bezeichnet sind, heißt es im Wesentlichen, seit Mitte Oktober 2020 fänden regelmäßig einmal wöchentlich psychotherapeutische Sitzungen mit dem Patienten statt. Er leide an einer akuten Depression und emotionaler Instabilität verbunden mit Existenzängsten, die ihn zeitweise arbeitsunfähig machten. Ein Umzug führe mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer deutlichen Verschlechterung des Krankheitsbildes.

Das AG gab der auf Räumung und Herausgabe der Wohnung gerichteten Klage statt und stellte Eigenbedarf der Klägerin an der Wohnung fest. Einen Anspruch des Beklagten zu 1) auf Fortsetzung des Mietverhältnisses nach Maßgabe des § 574 BGB verneinte das AG. Das LG führte in einem Hinweisbeschluss im Wesentlichen aus, eine dem Beklagten zu 1) im Falle des Wohnungswechsels drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahr sei nicht hinreichend konkret dargelegt. Der Mieter genüge seiner Darlegungs- bzw. Substantiierungslast dann, wenn er unter Vorlage eines (ausführlichen) fachärztlichen Attests geltend mache, ihm sei ein Umzug wegen einer schweren Erkrankung nicht zuzumuten. Hier fehle es bereits an der Vorlage eines fachärztlichen Attests. Die Beklagten hätten lediglich eine Stellungnahme eingereicht, welche nicht von einem (Fach-)Arzt, sondern von einem "Psychoanalytiker" erstellt worden sei. Die Beklagten reichten daraufhin eine "Stellungnahme über Psychotherapie" des Behandlers des Beklagten zu 1) zu den Gerichtsakten. Dort heißt es u.a., für den Beklagten zu 1) seien Suizidgedanken der einzige Ausweg in den regelmäßigen Episoden seiner manischen Depression. Die Behandlung stehe am Beginn eines langen Gesundungsprozesses. Ein Verlust seines Lebensmittelpunkts könne mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Verzweiflungstat führen, die ggf. in einem Suizid enden könne.

Daraufhin wies das LG die Berufung zurück. Auf die Revision der Beklagten hob der BGH den Beschluss des LG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Mit der vom LG gegebenen Begründung kann der Klägerin ein Anspruch auf Räumung und Herausgabe der von dem Beklagten zu 1) gemieteten und von beiden Beklagten genutzten Wohnung (§ 546 Abs. 1, 2, § 985 BGB) nicht zuerkannt und ein Anspruch des Beklagten zu 1) auf Fortsetzung des Mietverhältnisses gem. §§ 574, 574a BGB nicht verneint werden. Die Revision beanstandet mit Recht, dass die Annahme des LG, der Beklagte zu 1) habe die Fortsetzung des wegen Eigenbedarfs gekündigten Mietverhältnisses nicht verlangen können, weil ein Härtegrund i.S.d. § 574 Abs. 1 BGB in der Person des Beklagten zu 1) bereits mangels Vorlage eines fachärztlichen Attests nicht substantiiert dargelegt sei, von Rechtsfehlern beeinflusst ist.

Nach § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB kann der Mieter der Kündigung des Vermieters widersprechen und von ihm die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung des Mietverhältnisses für den Mieter, seine Familie oder einen anderen Angehörigen seines Haushalts eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu rechtfertigen ist. Das LG durfte das Vorliegen einer solchen Härte nicht verneinen, ohne das - auf die beiden Stellungnahmen des Behandlers des Beklagten zu 1 vom 20.11.2020 und vom 14.9.2022 gestützte - Vorbringen zu den gesundheitlichen Auswirkungen eines erzwungenen Umzugs auf das Beschwerdebild des Beklagten zu 1) einer Gesamtwürdigung zu unterziehen. Das LG hat den dahingehenden Sachvortrag des Beklagten zu 1) zu Unrecht schon deshalb als unbeachtlich angesehen, weil es sich bei den Ausführungen des Behandlers des Beklagten zu 1) nicht um (fach-)ärztliche Atteste handelt.

Die Annahme des LG, dass der Mieter, der sich auf einen Härtegrund i.S.v. § 574 Abs. 1 BGB beruft, hinreichend substantiierten Sachvortrag nur dann halte, wenn er diesen durch Vorlage eines (ausführlichen) fachärztlichen Attests untermauert, findet in der Rechtsprechung des Senats keine Stütze. Nach der Rechtsprechung des Senats genügt der Mieter als medizinischer Laie seiner Darlegungs- bzw. Substantiierungslast (auf jeden Fall dann), wenn er unter Vorlage eines (ausführlichen) fachärztlichen Attests geltend macht, ihm sei ein Umzug wegen einer schweren Erkrankung nicht zuzumuten. Entgegen der Annahme des LG hat der Senat damit jedoch nicht zum Ausdruck gebracht, dass für die Erfüllung der Substantiierungspflicht des Mieters stets die Vorlage eines fachärztlichen Attests erforderlich ist.

Nach dieser Maßgabe kann im Einzelfall auch eine (ausführliche) Stellungnahme eines - bezogen auf das geltend gemachte Beschwerdebild - medizinisch qualifizierten Behandlers geeignet sein, den Sachvortrag des Mieters zu untermauern, auch wenn diese nicht von einem Facharzt erstellt worden ist. Dabei kommt es auf die konkreten Umstände, insbesondere den konkreten Inhalt des (ausführlichen) Attests an.

Danach durfte das LG von einer inhaltlichen Würdigung der beiden zur Unterstützung des Sachvortrags des Beklagten zu 1) vorgelegten "Stellungnahmen zur Psychotherapie" nicht deshalb absehen, weil es sich nicht um fachärztliche Atteste handelt. Feststellungen dahingehend, dass der Inhalt der vorbezeichneten Stellungnahmen medizinisch nicht qualifiziert sein könnte, hat das LG nicht getroffen. Zwar hat das es nicht festgestellt, auf welcher Grundlage der sich als "Psychoanalytiker" bezeichnende Behandler des Beklagten zu 1) Leistungen der Psychoanalyse erbringt. Der Briefkopf des Behandlers deutet jedoch darauf hin, dass er jedenfalls zulässigerweise Leistungen der Psychotherapie auf der Grundlage des Heilpraktikergesetzes (HPG) anbietet.

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Aufsatz
Eigenbedarf: Fehlender Ersatzwohnraum als Härteeinwand
Hans Reinold Horst, MietRB 2024, 266
MIETRB0069100

Kommentierung | BGB
§ 574 Widerspruch des Mieters gegen die Kündigung
Lützenkirchen, Mietrecht, 3. Aufl.

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