19.02.2024

Insolvenzanfechtung: Kein Verstoß gegen Treu und Glauben durch Geltendmachung eines Anspruchs auf Rückgewähr gezahlter Einfuhrumsatzsteuer

Die Geltendmachung eines Insolvenzanfechtungsanspruchs auf Rückgewähr gezahlter Einfuhrumsatzsteuer verstößt nicht gegen Treu und Glauben (dolo-agit-Einwand). Die Geltendmachung des insolvenzanfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruchs verstößt selbst dann nicht gegen Treu und Glauben, wenn man mit dem OLG von einer Pflicht zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs ausgeht und annimmt, dass eine daraus folgende Umsatzsteuerschuld eine Masseverbindlichkeit darstellt.

BGH v. 8.2.2024 - IX ZR 2/22
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 12.11.2015 am 29.1.2016 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der L. GmbH & Co. KG (Schuldnerin). Die Schuldnerin handelte mit Outdoor-Bekleidung. Zu diesem Zweck führte sie Bekleidung aus einem Drittland (Vietnam) nach Deutschland ein und entrichtete dafür die geschuldete Einfuhrumsatzsteuer. In der Zeit vom 14.11.2014 bis zum 27.10.2015 betrugen die Zahlungen insgesamt rd. 1,1 Mio. €. Die Zahlungen brachte die Schuldnerin als Vorsteuer bei den entsprechenden Umsatzsteuervoranmeldungen in Abzug. Unter dem Gesichtspunkt der Insolvenzanfechtung nimmt der Kläger die beklagte B. auf Rückgewähr der Einfuhrumsatzsteuerzahlungen in Anspruch. Die von ihm verwaltete Masse deckt die fälligen Masseverbindlichkeiten.

LG und OLG wiesen die Klage ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH den Beschluss des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Die Rechtsverfolgung des Klägers verstößt nicht gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB).

Es ist allgemein anerkannt, dass die Ausübung eines Rechts gegen Treu und Glauben verstoßen und die Rechtsausübung deshalb unzulässig sein kann. Zur einfacheren und zugleich rechtssichereren Beurteilung der Frage, ob die Ausübung eines Rechts gegen Treu und Glauben verstößt, haben sich in Praxis und Wissenschaft Fallgruppen herausgebildet. Zu diesen Fallgruppen zählt auch der vom OLG für einschlägig gehaltene dolo-agit-Einwand. Unzulässig ist danach die Durchsetzung eines Anspruchs, wenn der Gläubiger das Erlangte wieder an den Schuldner herauszugeben hätte (dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est; vgl. BGH v. 12.7.2022 - II ZR 81/21, ZIP 2022, 1695 Rn. 17; BGH v. 17.1.2023 - VI ZR 203/22, WM 2023, 422 Rn. 50; st. Rspr.). Dies setzt voraus, dass für die Ausübung der bestehenden Rechtsstellung keine schutzwürdigen Interessen bestehen, sondern das Erheben des Anspruchs dem Schuldner unnötige Beschwernisse und zusätzliche Insolvenzrisiken aufbürdet, ohne dem Gläubiger legitime Vorteile zu bringen. Ein Rückgriff auf § 242 BGB ist nur zur Korrektur schlechthin unangemessener und untragbarer Ergebnisse geboten.

Nach diesen Grundsätzen ist das auf § 143 InsO gestützte Verlangen des Klägers auf Rückgewähr der streitgegenständlichen Zahlungen von Einfuhrumsatzsteuer keine unzulässige Rechtsausübung. Dabei kann offenbleiben, ob eine Rückgewähr der angefochtenen Einfuhrumsatzsteuerzahlungen eine Pflicht des Klägers zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs gem. § 17 Abs. 3 UStG zur Folge hätte. Die Geltendmachung des insolvenzanfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruchs verstößt selbst dann nicht gegen Treu und Glauben, wenn man mit dem OLG von einer Pflicht zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs ausgeht und annimmt, dass eine daraus folgende Umsatzsteuerschuld eine Masseverbindlichkeit darstellt.

Mit Recht hat sich das OLG für zuständig gehalten, im Rahmen der Prüfung des dolo-agit-Einwands über die Frage der Berichtigungspflicht nach § 17 Abs. 3 UStG zu befinden. Nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG entscheidet das Gericht des zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten. Allerdings wird die Entscheidung über eine zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung für unzulässig gehalten, die weder unstreitig noch rechts- oder bestandskräftig festgestellt ist. Das wird damit begründet, dass es sich bei der Prozessaufrechnung um einen weiteren Streitgegenstand handelt und wegen der Rechtskraftwirkung einer Entscheidung über die Gegenforderung (§ 322 Abs. 2 ZPO) die Gefahr besteht, dass ein an sich nicht zuständiges Gericht mit Bindungswirkung gegenüber den nach der Rechtswegzuweisung entscheidungsbefugten Gerichten entscheidet.

Diese Bedenken greifen hier nicht durch. Die Wirkungen des (begründeten) dolo-agit-Einwands auf die Rechtsverfolgung des Anspruchsinhabers ähneln zwar denen der Aufrechnung (vgl. etwa Erman/Böttcher, BGB, 17. Aufl., § 242 Rn. 111). Allerdings handelt es sich weder um einen weiteren Streitgegenstand noch erwächst die Entscheidung über die Pflicht des Anspruchsinhabers zur Rückgewähr des Erlangten in Rechtskraft. Insbesondere wäre die Finanzgerichtsbarkeit nicht gehindert, eine Pflicht zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs gem. § 17 Abs. 3 UStG anzunehmen, wenn das mit dem dolo-agit-Einwand befasste Zivilgericht eine solche Pflicht verneinen würde. Die (hier unterstellte) Pflicht zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs nach § 17 Abs. 3 UStG begründet den vom OLG angenommenen dolo-agit-Einwand nicht.

Die beklagte B. ist Anfechtungsgegnerin und muss wegen ihrer nach § 144 Abs. 1 InsO wiederauflebenden Einfuhrumsatzsteuerforderungen Befriedigung wie jeder andere (Insolvenz-)Gläubiger suchen. Das stellt die angefochtene Entscheidung über die Berufung des Klägers nicht infrage. Sie stützt den dolo-agit-Einwand vielmehr auf die aus § 17 Abs. 3 UStG abgeleitete Verpflichtung des Klägers, den Vorsteuerabzug in Höhe der Rückgewähr anfechtbarer Einfuhrumsatzsteuerzahlungen zu berichtigen, und die Annahme, dass es sich bei der Umsatzsteuerforderung, die aus der Berichtigung resultiere, um eine Masseverbindlichkeit handele. Das begründet den dolo-agit-Einwand nicht.

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