08.05.2023

Reichweite des Vertrauensgrundsatzes hinsichtlich des verkehrsgerechten Verhaltens eines Fußgängers beim Überqueren einer Fahrbahn

Hat ein aus Sicht des Kraftfahrers von links die Fahrbahn querender Fußgänger die Fahrbahn bereits betreten und ist noch in Bewegung, darf der Kraftfahrer nicht in jedem Fall darauf vertrauen, der Fußgänger werde in der Mitte der Fahrbahn stehenbleiben und ihn vorbeilassen. Jedenfalls ist dem Vertrauen darauf, der Fußgänger werde an einer vorhandenen Mittellinie anhalten und das bevorrechtigte Fahrzeug passieren lassen, dann die Grundlage entzogen, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände Anlass für den Kraftfahrer besteht, am verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln.

BGH v. 4.4.2023 - VI ZR 11/21
Der Sachverhalt:
Der Beklagte zu 1) befuhr am 7.6.2014 gegen 23 Uhr eine Brücke mit einem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw auf dem dafür vorgesehenen rechten Fahrstreifen, während der Kläger von dem aus der Fahrtrichtung des Beklagten zu 1) gesehen linken Gehweg aus begann, zu Fuß die Brücke zu überqueren. Die Fahrbahn der Brücke besteht aus zwei durch eine Mittellinie getrennten Fahrstreifen mit jeweils einem Randstreifen, der als Fahrradweg markiert ist. Die Gesamtbreite der Fahrbahn beträgt rund 12,5 m.

Nach Erreichen des von dem Beklagten zu 1) genutzten Fahrstreifens kam es zur Kollision, wodurch der Kläger erheblich verletzt wurde. Später erklärte der Kläger, er habe die Fahrbahn der Brücke mit "normaler" Geschwindigkeit überquert. Der Beklagte zu 1) habe erst gebremst, nachdem er mit dem Kläger kollidiert sei. Die Beklagten behaupteten, der Kläger habe die Fahrbahn rennend und unmittelbar hinter einem Lieferwagen ohne anzuhalten überquert, weshalb der Beklagte zu 1) ihn erst kurz vor der Kollision habe wahrnehmen können und dann eine Vollbremsung vorgenommen habe, ohne dass dadurch jedoch der Zusammenstoß vermeidbar geworden wäre.

Der Kläger begehrte unter Berücksichtigung eines ihn treffenden Mitverschuldens von 50 % den Ersatz materieller und immaterieller Schäden sowie die Feststellung, dass die Beklagten ihm 50 % seines zukünftigen Schadens zu ersetzen habe. LG und KG haben die Klage abgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat der BGH das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das KG zurückverwiesen.

Gründe:
Mit der Begründung des Berufungsgerichts konnten Schadensersatzansprüche des Klägers gegen die Beklagten gem. § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG, §§ 823, 249 BGB, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG nicht verneint werden.

Die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht ein unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1) verneint hatte, weil er weder entgegen § 3 Abs. 1 StVO mit einer den Straßen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen nicht angepassten Geschwindigkeit gefahren sei noch gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht des § 1 Abs. 2 StVO verstoßen habe, waren rechtsfehlerhaft. Sie beruhten auf der Prämisse, eine Reaktionspflicht des Beklagten zu 1) habe erst zum Zeitpunkt bestanden, als der Kläger den Mittelstreifen überquert hatte und in die vom Beklagten zu 1) genutzte Fahrbahn geraten war, weil ein Fahrzeugführer nicht damit zu rechnen brauche, dass ein Fußgänger das Überqueren einer mehrspurigen Straße über die Mittellinie hinaus fortsetze, obwohl das Kraftfahrzeug bereits nahe sei. Damit hat das KG den Vertrauensgrundsatz überdehnt, der jedenfalls auf der Grundlage der hier getroffenen Feststellungen nicht zu Gunsten des Beklagten zu 1) herangezogen werden konnte.

Nach dem im Straßenverkehr geltenden Vertrauensgrundsatz kann ein Verkehrsteilnehmer, der sich verkehrsgemäß verhält, damit rechnen, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer den Verkehr nicht durch pflichtwidriges Verhalten gefährdet, solange die sichtbare Verkehrslage zu keiner anderen Beurteilung Anlass gibt. Ein Kraftfahrer ist dabei grundsätzlich auch bei breiteren Straßen verpflichtet, die gesamte Straßenfläche vor sich zu beobachten. Dementsprechend muss ein Kraftfahrer am Fahrbahnrand befindliche oder vor ihm die Fahrbahn überquerende Fußgänger im Auge behalten und in seiner Fahrweise erkennbaren Gefährdungen Rechnung tragen. Zwar braucht ein Kraftfahrer weder damit zu rechnen, dass ein erwachsener Fußgänger versuchen wird, kurz vor seinem Fahrzeug die Fahr-bahn zu betreten, noch muss er damit rechnen, dass ein Fußgänger, der beim Überschreiten der Fahrbahn vor oder in der Mitte der Straße anhält, unerwartet weiter in seine Fahrbahn laufen werde, solange er bei verständiger Würdigung aller Umstände keinen Anlass hat, an dem verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln.

Hat - wie im Streitfall - ein aus Sicht des Kraftfahrers von links die Fahrbahn querender Fußgänger die Fahrbahn bereits betreten und ist noch in Bewegung, darf der Kraftfahrer jedoch nicht in jedem Fall darauf vertrauen, der Fußgänger werde in der Mitte der Fahrbahn stehenbleiben und ihn vorbeilassen. Richtig handelt zwar ein Fußgänger, der beim Überschreiten einer belebten und nicht allzu schmalen Straße zunächst, soweit es der von links kommende Verkehr gestattet, bis zur Mitte geht und dort wartet, bis er auch die andere Fahrbahnhälfte überqueren kann. Jedenfalls ist dem Vertrauen darauf, der Fußgänger werde an einer vorhandenen Mittellinie anhalten und das bevorrechtigte Fahrzeug passieren lassen, dann die Grundlage entzogen, wenn bei verständiger Würdigung aller Umstände Anlass für den Kraftfahrer besteht, am verkehrsgerechten Verhalten des Fußgängers zu zweifeln.

Derartige Anhaltspunkte lagen hier nach den Feststellungen des Berufungsgerichts vor. Dass der Kläger beim Überqueren der Straße hätte erkennen lassen, den Beklagten zu 1) gesehen zu haben, etwa indem er in dessen Richtung blickte, oder die Parteien dies behauptet hätten, ist vom Berufungsgericht nicht festgestellt worden. Unter diesen Umständen durfte der Beklagte zu 1) nach den oben dargelegten Grundsätzen nicht darauf vertrauen, der Kläger werde ihn passieren lassen.

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