Unfall an der Kreuzung: Wechselseitige Neutralisierung von Anscheinsbeweislagen
LG Stralsund v. 26.6.2025 - 2 O 261/24
Der Sachverhalt:
Zwischen den Fahrzeugen des Klägers und der Beklagten war es in einem Kreuzungs-/Einmündungsbereich zu einem Zusammenstoß gekommen. Unstreitig war, dass die Beklagte aus ihrer Sicht nach links abgebogen war. Nähere Einzelheiten zum Unfallhergang blieben jedoch streitig. Der vom Kläger in der Hauptsache reklamierte materielle Schaden im Umfang von 13.660 €, in dem auch eine allgemeine Unkostenpauschale im Umfang von 30 € enthalten war, sowie die vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten i.H.v. 1.134 € wurden von der Beklagten nicht angegriffen.
Der Kläger behauptete, er sei mit der Fahrzeugfront bis an die Haltelinie zwischen der B-Straße und der bevorrechtigten A-Straße herangefahren und dort vollständig zum Stehen gekommen. Sein Fahrzeug habe sich im Kollisionszeitpunkt nicht mehr bewegt. Zu dem Zusammenstoß sei es nur gekommen, weil die Beklagte die Kurve massiv "geschnitten" habe. Bei dieser Sachlage hafte die Beklagte insgesamt allein.
Die Beklagte ging hingegen von einer Alleinhaftung des Klägers aus. Tatsächlich habe nämlich sie den Einmündungsbereich nicht "geschnitten". Vielmehr sei sie in einer weitläufigen Kurvenbewegung äußerst rechts gefahren. Zum Zusammenstoß sei es letztlich nur gekommen, weil der Kläger ihre Vorfahrt missachtet habe.
Das LG hat der Klage i.H.v. 6.827 € stattgegeben.
Die Gründe:
Das Beweisverfahren ergab eine hälftige Mithaftung beider Seiten - fifty-fifty.
Dass der Unfall für eine der beiden Seiten im hier maßgeblichen Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG unabwendbar, also auch für einen sog. Idealfahrer (§ 17 Abs. 3 Satz 2 StVG) nicht zu vermeiden gewesen wäre, hat sich nicht bestätigt. Auch unterhalb der Schwelle zur Unabwendbarkeit ist eine Alleinhaftung einer Seite nach Maßgabe der wechselseitigen Verschuldens- und Verursachungsanteile (§ 17 Abs. 2 StVG) zwar denkbar. Das kommt nach der Rechtsprechung insbesondere dann in Betracht, wenn zum Nachteil einer Seite ein Anscheinsbeweis für eine weit überwiegende oder gar alleinige Unfallverursachung streitet, bei der für einen selbst geringen Mithaftungsanteil der anderen Seite billigerweise kein Raum mehr sein kann. Vorliegend kamen entsprechende Anscheinsbeweislagen auch durchaus in Betracht. Sie lagen hier aber gleichermaßen zum Vor- und Nachteil beider Seiten vor, womit sie sich letztlich gegenseitig aufhoben.
Zum Nachteil der Beklagten stritt gerade der Umstand, dass sie nach den insofern eindeutigen und abermals überzeugenden Feststellungen des Gerichtssachverständigen den Kurven- bzw. Einmündungsbereich - ganz erheblich - "geschnitten" haben musste, womit ein Verstoß entweder gegen § 2 Abs. 2 StVO vorlag oder aber zumindest gegen § 2 Abs. 1 Satz 1 StVO. Auf der anderen Seite stand fest, dass der Kläger die Vorfahrt (§ 8 StVO) der Beklagten nicht (umfänglich) respektiert hatte. Ausgehend von der schlüssigen Unfallrekonstruktion durch den Sachverständigen befand sich das klägerische Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt bereits auf der aus seiner Sicht bevorrechtigten - weil von rechts kommenden - Straße. Dass das klägerische Fahrzeug sich dort zumindest noch ausschließlich auf der aus klägerischer Sicht rechten Fahrbahnhälfte befunden hatte, änderte am Vorfahrtsverstoß letztlich nichts, weil insofern auf die gesamte Breite der Fahrbahn der bevorrechtigten Straße abzustellen war; eine Beschränkung auf die linke (also Gegenverkehrs-) Fahrbahnhälfte findet nach der Rechtsprechung nur im Bereich der untergeordneten Straße statt.
Ein möglicherweise haftungsrechtlicher Vorteil des Klägers wurde dadurch kompensiert und letztlich aufgezehrt, dass er nach der auch insofern schlüssigen und belastbaren Einschätzung des Gerichtssachverständigen innerhalb der aus seiner Sicht rechten Fahrbahnhälfte der bevorrechtigten Straße deutlich und letztlich unvernünftig weit nach links gefahren war, womit er in dem hier in Rede stehenden unübersichtlichen Bereich (vgl. § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO), in dem mit "Schnippeln" lebensnah zu rechnen war und in dem insofern auch ganz konkret besonderer Anlass zu weitestgehender Orientierung nach rechts bestanden hätte, ein zusätzliches Kollisionsrisiko geschaffen hatte. Damit blieb es im Ergebnis bei einer hälftigen Mithaftung beider Seiten.
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Aufsatz:
Peter Reusch
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Zwischen den Fahrzeugen des Klägers und der Beklagten war es in einem Kreuzungs-/Einmündungsbereich zu einem Zusammenstoß gekommen. Unstreitig war, dass die Beklagte aus ihrer Sicht nach links abgebogen war. Nähere Einzelheiten zum Unfallhergang blieben jedoch streitig. Der vom Kläger in der Hauptsache reklamierte materielle Schaden im Umfang von 13.660 €, in dem auch eine allgemeine Unkostenpauschale im Umfang von 30 € enthalten war, sowie die vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten i.H.v. 1.134 € wurden von der Beklagten nicht angegriffen.
Der Kläger behauptete, er sei mit der Fahrzeugfront bis an die Haltelinie zwischen der B-Straße und der bevorrechtigten A-Straße herangefahren und dort vollständig zum Stehen gekommen. Sein Fahrzeug habe sich im Kollisionszeitpunkt nicht mehr bewegt. Zu dem Zusammenstoß sei es nur gekommen, weil die Beklagte die Kurve massiv "geschnitten" habe. Bei dieser Sachlage hafte die Beklagte insgesamt allein.
Die Beklagte ging hingegen von einer Alleinhaftung des Klägers aus. Tatsächlich habe nämlich sie den Einmündungsbereich nicht "geschnitten". Vielmehr sei sie in einer weitläufigen Kurvenbewegung äußerst rechts gefahren. Zum Zusammenstoß sei es letztlich nur gekommen, weil der Kläger ihre Vorfahrt missachtet habe.
Das LG hat der Klage i.H.v. 6.827 € stattgegeben.
Die Gründe:
Das Beweisverfahren ergab eine hälftige Mithaftung beider Seiten - fifty-fifty.
Dass der Unfall für eine der beiden Seiten im hier maßgeblichen Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG unabwendbar, also auch für einen sog. Idealfahrer (§ 17 Abs. 3 Satz 2 StVG) nicht zu vermeiden gewesen wäre, hat sich nicht bestätigt. Auch unterhalb der Schwelle zur Unabwendbarkeit ist eine Alleinhaftung einer Seite nach Maßgabe der wechselseitigen Verschuldens- und Verursachungsanteile (§ 17 Abs. 2 StVG) zwar denkbar. Das kommt nach der Rechtsprechung insbesondere dann in Betracht, wenn zum Nachteil einer Seite ein Anscheinsbeweis für eine weit überwiegende oder gar alleinige Unfallverursachung streitet, bei der für einen selbst geringen Mithaftungsanteil der anderen Seite billigerweise kein Raum mehr sein kann. Vorliegend kamen entsprechende Anscheinsbeweislagen auch durchaus in Betracht. Sie lagen hier aber gleichermaßen zum Vor- und Nachteil beider Seiten vor, womit sie sich letztlich gegenseitig aufhoben.
Zum Nachteil der Beklagten stritt gerade der Umstand, dass sie nach den insofern eindeutigen und abermals überzeugenden Feststellungen des Gerichtssachverständigen den Kurven- bzw. Einmündungsbereich - ganz erheblich - "geschnitten" haben musste, womit ein Verstoß entweder gegen § 2 Abs. 2 StVO vorlag oder aber zumindest gegen § 2 Abs. 1 Satz 1 StVO. Auf der anderen Seite stand fest, dass der Kläger die Vorfahrt (§ 8 StVO) der Beklagten nicht (umfänglich) respektiert hatte. Ausgehend von der schlüssigen Unfallrekonstruktion durch den Sachverständigen befand sich das klägerische Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt bereits auf der aus seiner Sicht bevorrechtigten - weil von rechts kommenden - Straße. Dass das klägerische Fahrzeug sich dort zumindest noch ausschließlich auf der aus klägerischer Sicht rechten Fahrbahnhälfte befunden hatte, änderte am Vorfahrtsverstoß letztlich nichts, weil insofern auf die gesamte Breite der Fahrbahn der bevorrechtigten Straße abzustellen war; eine Beschränkung auf die linke (also Gegenverkehrs-) Fahrbahnhälfte findet nach der Rechtsprechung nur im Bereich der untergeordneten Straße statt.
Ein möglicherweise haftungsrechtlicher Vorteil des Klägers wurde dadurch kompensiert und letztlich aufgezehrt, dass er nach der auch insofern schlüssigen und belastbaren Einschätzung des Gerichtssachverständigen innerhalb der aus seiner Sicht rechten Fahrbahnhälfte der bevorrechtigten Straße deutlich und letztlich unvernünftig weit nach links gefahren war, womit er in dem hier in Rede stehenden unübersichtlichen Bereich (vgl. § 8 Abs. 2 Satz 3 StVO), in dem mit "Schnippeln" lebensnah zu rechnen war und in dem insofern auch ganz konkret besonderer Anlass zu weitestgehender Orientierung nach rechts bestanden hätte, ein zusätzliches Kollisionsrisiko geschaffen hatte. Damit blieb es im Ergebnis bei einer hälftigen Mithaftung beider Seiten.
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