04.05.2022

Unfall im verkehrsberuhigten Bereich: Taxigast vs. Raserin

Die Sorgfaltspflichten beim Ein- und Aussteigen richten sich in einem verkehrsberuhigten Bereich (Zeichen 325.1 und 2) nach § 1 StVO i.V.m. dem Rechtsgedanken des § 14 Abs. 1 StVO. Kommt es beim Aussteigen eines Taxi-Fahrgastes zu einer Kollision mit einem Fahrzeug, das die zulässige Geschwindigkeit erheblich überschreitet, tritt die Betriebsgefahr des vorbeifahrenden Fahrzeugs nicht zurück.

LG Saarbrücken v. 11.2.2022, 13 S 135/21
Der Sachverhalt:
Die Klägerin befuhr mit ihrem Renault eine Einbahnstraße, die als verkehrsberuhigter Bereich i.S.v. § 42 StVO (Zeichen 325.1 u. 2.) ausgewiesen ist. Linksseitig parkten Fahrzeuge, rechtsseitig stand das bei der Zweitbeklagten haftpflichtversicherte Taxi. Der Erstbeklagte wollte aus dem Taxi aussteigen und öffnete hierzu die hintere linke Tür. In der Folge kam es zur Kollision mit dem Klägerfahrzeug.

Erstinstanzlich hat die Klägerin die Beklagten unter Zugrundelegung deren Alleinhaftung auf Schadensersatz von rund 1.899 € in Anspruch genommen. Hierzu hat sie geltend gemacht, der Erstbeklagte habe die Tür plötzlich geöffnet, als sie an dem Beklagtenfahrzeug vorbeigefahren sei. Die Beklagten haben geltend gemacht, links neben dem Taxi habe ausreichend Platz bestanden, um dieses gefahrlos zu passieren. Der Erstbeklagte habe nach vorheriger Rückschau die Tür vorsichtig geöffnet und begonnen, das Fahrzeug zu verlassen. Die Tür sei bereits geraume Zeit geöffnet und der Erstbeklagte sei bereits im Aussteigen begriffen gewesen, als die Klägerin das Beklagtenfahrzeug mit unangemessener Geschwindigkeit passiert habe und mit der Tür kollidiert sei.

Das AG hat der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei davon auszugehen, dass der Unfall alleine von den Beklagten verschuldet sei. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten war in der Sache teilweise erfolgreich.

Die Gründe:
Das Erstgericht hat auf Beklagtenseite mit Recht einen unfallursächlichen Verstoß berücksichtigt. Dieser ergibt sich hier aber nicht aus § 14 Abs. 1 StVO unmittelbar, sondern aus § 1 Abs. 2 StVO i.V.m. dem Rechtsgedanken des § 14 Abs. 1 StVO.

Der Unfall hat sich hier in einem verkehrsberuhigten Bereich i.S.d. § 42 StVO (Zeichen 325.1 u. 2) ereignet. Nach der Rechtsprechung der Kammer kommt hier wie auf Parkplätzen § 1 Abs. 2 StVO zur Anwendung. Den Aussteigenden trifft aber auch im Rahmen des allgemeinen Rücksichtnahmegebots nach § 1 Abs. 2 StVO die Pflicht, sich vor dem Türöffnen zu vergewissern, dass kein anderer Verkehrsteilnehmer durch das Türöffnen geschädigt wird. Dabei können die strengen Sorgfaltsmaßstäbe, die im fließenden Verkehr gelten, jedenfalls sinngemäß herangezogen werden, sofern sich - wie hier - in einem bestimmten Verkehrsverhalten die besondere Gefährlichkeit gegenüber den übrigen Verkehrsteilnehmern niederschlagen kann. Daher hatte der Erstbeklagte beim Türöffnen hier für die gesamte Dauer des Aussteigevorgangs, der erst mit dem Schließen der Fahrzeugtüre und dem Verlassen der Fahrbahn beendet ist.

Ohne Erfolg machten die Beklagten geltend, auch auf Klägerseite sei ein unfallursächlicher Sorgfaltsverstoß zu berücksichtigen. Denn derjenige, der an einem stehenden Fahrzeug vorbeifährt, muss nach dem allgemeinen Gebot der Gefährdungsvermeidung (§ 1 Abs. 2 StVO) einen angemessenen Seitenabstand einhalten. Dieser kann nach den maßgeblichen Umständen des Einzelfalls durchaus geringer sein als der beim Überholen und bei der Begegnung regelmäßig verlangte Mindestabstand von 1 m. Er muss aber jedenfalls so bemessen sein, dass ein geringfügiges Öffnen der Wagentür noch möglich bleibt, wenn für den Vorbeifahrenden nicht mit Sicherheit erkennbar ist, dass sich im haltenden Fahrzeug und um das Fahrzeug herum keine Personen aufhalten. Die Klägerin hat diesen Sorgfaltsanforderungen hier genügt.

Da sich die Sorgfaltspflichten der Unfallbeteiligten hier jeweils nach § 1 Abs. 2 StVO richten und damit einander angenähert sind, und zudem die erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung in einem verkehrsberuhigten Bereich die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs objektiv erhöht hat, erscheint es aber angemessen, diese hier nicht vollständig zurücktreten zu lassen, sondern mit 25% in die Haftungsabwägung einzustellen. Der Klägerin stehen damit 75% des geltend gemachten Schadensersatzes von 1.899 €, mithin 1.424,69 Euro zu.

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