30.01.2025

Wie fährt ein Idealfahrer Motorrad?

Fahren zwei Motorradfahrer hintereinander, so muss der nachfolgende Motorradfahrer auch dann einen Abstand zum vorausfahrenden Motorrad einhalten, welcher bei einer plötzlichen Bremsung einen Anhaltevorgang hinter dem Vorausfahrenden zulässt, wenn die Motorradfahrer zugleich seitlich versetzt zueinander fahren und der Fahrstreifen beiden Motorradfahrern nebeneinander Platz bietet.

LG Stuttgart v. 29.1.2025, 27 O 112/24
Der Sachverhalt:
Der K. war am Unfalltag mit seinem bei der Klägerin haftpflichtversicherten Pkw Kia auf einer Landstraße unterwegs. Zum Unfallzeitpunkt herrschten klare Sichtverhältnisse. Vor ihm fuhr der W. mit seinem Pkw, vor diesem steuerte der B. einen Sattelzug. Hinter dem K. folgte der Z. mit einem Lastwagen. Die Fahrzeugkolonne war mit einer Geschwindigkeit von rund 60 km/h unterwegs. Auf der Gegenfahrbahn näherten sich zwei Motorradfahrer. Es handelte sich um den Geschädigten C. mit einer Kawasaki sowie den hinter ihm fahrenden Beklagten zu 1) auf einer KTM.

Nachdem ein vor den Motorrädern fahrendes Auto an der Fahrzeugkolonne vorbeigefahren war, scherte der K. mit seinem Kia zum Überholen aus, obwohl er die beiden Motorräder in der Annäherung wahrgenommen hatte. Um eine Frontalkollision mit dem Kia zu vermeiden, bremsten beide Motorradfahrer stark ab. Hierbei fuhr der Beklagte zu 1) mit dem Vorderrad seines Motorrads auf die Kawasaki des C. auf. Hierdurch stürzte dieser, während sich das Hinterrad der KTM anhob und das Motorrad dadurch überschlug. Sowohl der C. als auch der Beklagte zu 1) wurden hierdurch verletzt. Zu einer Berührung zwischen den Motorrädern und dem Kia kam es dabei nicht.

Der K. wurde später wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit zwei tateinheitlichen Fällen der fahrlässigen Körperverletzung zu einer Geldstrafe i.H.v. 60 Tagessätzen verurteilt. Zudem wurde ihm die Fahrerlaubnis entzogen. Die Klägerin erkannte ihre Eintrittspflicht im Außenverhältnis gegenüber dem C. an und regulierte dessen Sach- und Personenschaden (insgesamt 12.836 €). Außergerichtlich verlangte die Klägerin von der Beklagten zu 2), sich aufgrund eines Verschuldens des Beklagten zu 1) am streitgegenständlichen Unfall an der Regulierung der Schäden des C. zu beteiligen, was die Beklagte zu 2) ablehnte. Die Klägerin war der Ansicht, es treffe zwar zu, dass den K. am Unfall ein Verschulden treffe, es liege aber auch in der Person des Beklagten zu 1) ein Verschulden vor, da dieser gegenüber dem vorausfahrenden Motorrad des C. keinen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten habe.

Das LG hat die auf Zahlung von rund 3.209 € gerichtete Klage abgewiesen.

Die Gründe:
Im Außenverhältnis waren die Parteien zwar Gesamtschuldner gegenüber dem C., weil sich bei dessen Schaden zumindest die Betriebsgefahr des Motorrads des Beklagten zu 1) verwirklicht hatte (§ 7 Abs. 1 StVG). Der Auffahrvorgang war für den Beklagten zu 1) auch kein unabwendbares Ereignis (§ 17 Abs. 3 Satz 1 StVG). Ein Idealfahrer hätte sofort eine Vollbremsung eingeleitet, als der K. zum Überholen ansetzte und überdies einen Sicherheitsabstand zum C. eingehalten, Fahren zwei Motorradfahrer hintereinander, so muss der nachfolgende Motorradfahrer auch dann einen Abstand zum vorausfahrenden Motorrad einhalten, welcher bei einer plötzlichen Bremsung einen Anhaltevorgang hinter dem Vorausfahrenden zulässt, wenn die Motorradfahrer zugleich seitlich versetzt zueinander fahren und der Fahrstreifen beiden Motorradfahrern nebeneinander Platz bietet.

Obwohl demnach sowohl auf Seiten des bei der Klägerin versicherten K. als auch auf Seiten des Beklagten zu 1) ein Verschulden vorlag, haftet die Klägerin im Innenverhältnis zwischen den Parteien allein, weil das Verschulden des Beklagten zu 1) und die Betriebsgefahr seines Motorrads hinter dem schweren Verschulden des K. vollumfänglich zurücktrat. Ein besonders schweres Verschulden kann zum völligen Ausschluss des Regresses nach § 17 StVG führen (BGH, Urt. v. 23.1.1996 - VI ZR 291/94), sofern auf der anderen Seite nur die Betriebsgefahr oder eine geringe Schuld vorliegen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme war der Verkehrsverstoß des K. im Einklang mit dem rechtskräftigen Strafbefehl nicht lediglich als (grob) fahrlässig, sondern dahingehend zu würdigen, dass der K. zwar nicht im Hinblick auf die eingetretenen Verletzungsfolgen, jedoch im Hinblick auf seinen Verkehrsverstoß mit Vorsatz gehandelt hatte. Vorsätzliches Handeln war dem K. jedenfalls insoweit vorzuwerfen, als er den Überholvorgang nicht abgebrochen hatte.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Nachweis eines versicherten Unfalls in der Kfz-Kaskoversicherung
OLG Karlsruhe vom 15.10.2024 - 12 U 12/24

Aufsatz:
Aktuelle Entwicklungen im zivilprozessualen Beweisrecht
Holger Jäckel, MDR 2024, 688

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